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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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und schwül und roch nach allem Möglichen. Dinge huschten zwischen den Haufen aus verfaulendem Abfall herum, ganze Rudel wilder Hunde schlichen schlecht gelaunt durch die Schatten und waren auf Ärger aus; sie wirkten so bedrohlich, dass ihr Leibwächter sein Schwert zog. Der Anblick der blanken Klinge reichte aus, um die Tiere in wilder Flucht davonjagen zu lassen.
    Die wenigen obdachlosen Armen, die tapfer oder verzweifelt genug waren, sich den Gefahren der Gassen und Straßen auszusetzen, hatten Abfälle benutzt, um Barrikaden und Unterschlupfe zu bauen. Andere hatten um ein Plätzchen auf den durchhängenden Dächern knirschender Hütten gebettelt und schliefen unruhig oder gar nicht. Tehol konnte zahllose Augenpaare spüren, die zu ihnen herunterstarrten und ihnen auf ihrem Weg immer tiefer ins Herz des Ghettos mit Blicken folgten.
    Während sie dahingingen, redete Tehol unaufhörlich. »… die Annahme ist das Fundament der letheriischen Gesellschaft, vielleicht auch aller Kulturkreise der Welt. Der Begriff der Ungerechtigkeit, meine Freunde. Denn aus der Ungerechtigkeit leitet sich das Konzept der Werte ab, ob sie jetzt in Geld oder einem der zahllosen anderen Mittel gemessen werden, mit denen man den Wert eines Menschen bemisst. Einfach gesagt, es wohnt in jedem von uns der unbestrittene Glaube, dass die Armen und Hungernden auf gewisse Weise ihr Schicksal verdienen. Mit anderen Worten, es wird immer arme Leute geben. Eine Binsenweisheit, um der immer wiederkehrenden Aufgabe des Vergleichens eine Struktur zu verleihen, wobei die Festsetzung nicht durch die Beobachtung unserer Ähnlichkeiten, sondern durch die unserer wesentlichen Unterschiede erfolgt.
    Ich weiß, was Ihr denkt, und das lässt mir keine andere Wahl, als Euch beide herauszufordern. Etwa so. Stellt Euch vor, Ihr würdet diese Straße entlanggehen und dabei Tausende von Münzen verteilen. Bis jeder hier über ein riesiges Vermögen verfügt. Wäre das eine Lösung? Nein, sagt Ihr, denn unter diesen plötzlich reichen Leuten wird es möglicherweise eine Mehrheit geben, die sich als verschwenderisch, liederlich und dumm erweist, und über kurz oder lang werden diese Leute wieder arm sein. Außerdem kommt noch eines hinzu: Wenn Reichtum auf diese Weise verteilt wird, würden die Münzen selbst jeden Wert verlieren  – sie würden aufhören, nützlich zu sein. Und ohne diese Nützlichkeit würde die ganze soziale Struktur zusammenbrechen, die wir so sehr lieben.
    Oh, aber dazu sage ich – na und? Es gibt andere Möglichkeiten, den Selbstwert zu messen. Worauf Ihr beide hitzig erwidern würdet: wenn der Arbeit kein Wert mehr beigemessen werden kann, verschwindet jeder Sinn für Wert! Und als Antwort darauf lächle ich einfach nur und schüttele den Kopf. Arbeit und ihre Ergebnisse werden zu verkäuflichen Waren. Aber wartet, wendet Ihr ein, dann schlüpft da ja doch so was wie Wert herein!
    Denn ein Mann, der Ziegel macht, kann nicht mit einem Mann gleichgesetzt werden, der … sagen wir Porträts malt. Der Werkstoff ist auf der Basis unseres Bedürfnisses, einen Vergleich geltend zu machen, von Natur aus wertbeladen – aber ach, habe ich nicht die Annahme an sich, dass man mit solchen komplizierten Strukturen von Wert weitermachen muss, in Frage gestellt?
    Und daher fragt Ihr: Worauf wollt Ihr hinaus, Tehol? Worauf ich mit einem Schulterzucken antworte. Habe ich gesagt, dass mein Vortrag ein nützliches Mittel sein würde, die Zeit zu nutzen? Habe ich nicht. Nein, Ihr habt angenommen, dass dem so wäre. Und so meine Aussage bewiesen!«
    »Es tut mir Leid, Herr«, sagte Bagg, »aber wie lautete diese Aussage nochmal genau?«
    »Das habe ich vergessen. Aber wir sind da. Sehet die Armen, meine Herren.«
    Sie standen am Rand eines alten Marktplatzes, auf dem jetzt eine Masse aus verwahrlosten Schutzhütten stand, zwischen denen es von Menschen wimmelte. Ein paar gemeinschaftlich genutzte Feuerstellen qualmten. Das Gebiet war von einem Ring aus Abfall umgeben – größtenteils Hunde- und Katzenknochen –, auf dem zahllose Ratten herumschwärmten. Kinder wanderten auf für Unterernährte typische Weise benommen und verloren umher. Neugeborene lagen eingewickelt und praktisch unbeaufsichtigt herum. Lautstarke Auseinandersetzungen waren zu hören, und irgendwo auf der gegenüberliegenden Seite war irgendein Kampf im Gange. Es gab Mischlinge, Nerek, Faraed, Tarthenal, da und dort war sogar ein vereinzelter Fent zu sehen. Und ein paar Letherii, die

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