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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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»Ich nehme es an.«
    »Gut. Frage nach Freiwilligen.«
    »Wofür?«
    »Ich will, dass sie mit mir kommen. Auf einen Ausflug. Heute Nacht, und dann noch einmal morgen Nacht.«
    »Warum sollten sie das tun wollen, Mutter?«
    »Sag ihnen, dass sie mehr Gold sehen werden, als sie sich vorstellen können. Sie werden Geheimnisse erfahren, von denen nur wenige in unserem Königreich wissen. Sag ihnen, ich werde sie auf einen Ausflug in die Schatzkammer der Burse und die königlichen Gewölbe mitnehmen. Sag ihnen, dass es an der Zeit ist, ein bisschen Spaß zu haben. Die Lebenden zu erschrecken.«
    »Warum sollten Geister den Lebenden Angst einjagen wollen?«
    »Ich weiß, dass das eine merkwürdige Vorstellung ist, aber ich sage voraus, dass sie erkennen werden, dass sie sehr gut darin sind. Und darüber hinaus sage ich auch voraus, dass ihnen die Sache Spaß machen wird.«
    »Aber wie soll das gehen? Es sind Geister. Die Lebenden können sie nicht einmal sehen.«
    Shurq Elalle drehte sich um und starrte zu der wogenden Menge hinüber. »Kessel, für uns sehen sie doch ziemlich echt aus, oder?«
    »Aber wir sind tot –«
    »Und warum konnten wir sie dann vor einer Woche noch nicht sehen? Damals waren sie nichts weiter als huschende Schemen, die wir gerade noch aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnten – wenn überhaupt. Ist es nicht so? Was hat sich also gelindert? Woher kommt ihre Macht? Warum nimmt sie zu?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Shurq lächelte. »Aber ich.«
    Kessel ging zu einer der niedrigen Mauern hinüber.
    Die Diebin schaute zu, wie sie mit den Toten sprach. Ich frage mich, ob es ihr klar ist. Ich frage mich, ob sie weiß, dass sie jetzt mehr lebendig als tot ist. Ich frage mich, ob sie weiß, dass sie ins Leben zurückkehrt.
    Nach einem kurzen Augenblick kehrte das Mädchen zurück; sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um die Knäuel zu lösen. »Du bist schlau, Mutter«, sagte sie. »Ich bin froh, dass du meine Mutter bist, und zwar genau deshalb.«
    »Habe ich ein paar Freiwillige?«
    »Sie werden alle kommen. Sie wollen das Gold sehen. Sie wollen Leute erschrecken.«
    »Ich brauche ein paar, die lesen können, und ein paar, die zählen können.«
    »Das geht in Ordnung. Also sag mir, Mutter, warum werden sie mächtiger? Was hat sich geändert?«
    Shurq warf einen Blick auf den viereckigen, verwahrlosten Steinturm. »Das da, Kessel.«
    »Der Azath?«
    »Ja.«
    »Oh«, sagte das Mädchen. »Jetzt verstehe ich es. Er ist gestorben.«
    »Ja«, sagte Shurq und nickte. »Er ist gestorben.«
     
    Nachdem Mutter – gefolgt von tausenden von Geistern – gegangen war, begab sich Kessel zum Eingang des Turms. Sie betrachtete die Pflastersteine, die vor der Tür eingelassen waren, suchte sich einen aus und kniete sich davor hin. Ihre Fingernägel brachen ab, als sie ihn löste, und sie war überrascht, dass es schmerzte und Blut aus den Fingerspitzen trat.
    Sie hatte Shurq nicht gesagt, wie schwierig es gewesen war, mit den Geistern zu sprechen. Ihre immer währenden Stimmen waren die letzten ein, zwei Tage schwächer geworden, als ob sie taub werden würde. Obwohl andere Geräusche – der Wind, die toten Blätter, die raschelnd herumwirbelten, das Knirschen und Schmatzen der Insekten im Hof und der Lärm der Stadt selbst  – genau so klar waren wie immer. Irgendetwas geschah mit ihr. Das pochende Pulsieren in ihrer Brust hatte sich beschleunigt. Es waren jetzt fünf, sechs Achter am Tag. Die Stellen, an denen sie sich vor langer Zeit verletzt hatte, schlossen sich mit neuer, hellrosafarbener Haut, und ein bisschen früher am heutigen Tag hatte sie Durst gehabt. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ihr klar geworden war – vielleicht auch, bis sie sich erinnert hatte –, was Durst war, was er bedeutete, aber das abgestandene Wasser, das sie am Grund einer der Gruben gefunden hatte, hatte wunderbar geschmeckt. So viele Dinge veränderten sich, wie es schien, und das verwirrte sie.
    Sie zog den Pflasterstein zu einer Seite und setzte sich neben ihn. Wischte dann den Staub von der freien, geschliffenen Oberfläche. Jetzt waren lustige Muster in dem Stein zu sehen. Muscheln, Abdrücke von Pflanzen – Schilf mit seinen zwiebelähnlichen Wurzelballen – und die kieseligen Eindrücke von Korallen. Winzige Knochen. Jemand hatte sich viel Mühe gegeben, um aus toten Dingen so etwas Schönes zu machen.
    Sie blickte den Pfad entlang, durch das Tor und hinaus auf die Straße. Es war merkwürdig, das alles jetzt

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