SdG 09 - Gezeiten der Nacht
der hohen Decke entlangging, der zum Hauptraum der Verwahrkammer der Burse führte. Wachen, Bedienstete, Schreiber und Reinigungspersonal erlagen samt und sonders einer vollkommen verständlichen Panik. Es gab wirklich nichts Schlimmeres, überlegte sie, als den unerwarteten Besuch längst verstorbener Verwandter.
Ein Stück voraus standen die Doppeltüren weit offen, und die Laternen in dem riesigen Raum dahinter schwangen angesichts der immanenten Ausbrüche energischer Hast wild hin und her.
Die Diebin trat in das Zimmer.
Ein heruntergekommener Geist raste auf sie zu, das verweste Gesicht grinste wild. »Ich hab sie berührt! Meine letzte Münze! Ich habe sie in den Stapeln gefunden! Und sie berührt!«
»Das freut mich für dich«, sagte Shurq. »Nun, wo sind die Zähler und die Leser?«
»Hä?«
Shurq ging an dem Geist vorbei. In dem Zimmer brodelte es förmlich, Geister huschten hierhin und dorthin, andere kauerten über umgestürzten Münzstapeln, noch andere schwärmten an den Regalen entlang. Kisten mit Münzen waren umgeworfen worden, die glitzernden Goldmünzen bewegten sich über den Marmorfußboden, wenn die schnatternden Gespenster sie begrapschten.
»Ich habe hier gearbeitet!«
Shurq beäugte den Geist, der auf sie zugeschwebt kam. »Hast du das?«
»Oh, ja. Sie haben mehr Regale aufgestellt, und schaut Euch diese Nischen für die Laternen an – welcher Idiot hat sich für diese Staubfänger entschieden? Staub ist feuergefährlich. Schrecklich feuergefährlich. Dabei habe ich ihnen das immer gesagt. Und jetzt könnte ich beweisen, dass ich Recht hatte – ein Schubs, ein leichter Schubs gegen die Laterne da, oh ja …«
»Komm wieder hierher! Hier wird nichts brennen. Hast du verstanden?«
»Wenn Ihr es sagt. Schön. Ich habe sowieso nur Spaß gemacht.«
»Hast du dir die Hauptbücher angesehen?«
»Ja, ja, und gezählt. Und mir gemerkt. Ich war immer gut darin, mir Dinge zu merken. Deshalb haben sie mich auch angeheuert. Ich konnte zählen und zählen und habe mich nie verzählt. Aber der Staub! Diese Nischen! Alles könnte brennen, schrecklich brennen –«
»Das reicht jetzt. Wir haben, was wir brauchen. Es ist Zeit, zu verschwinden.«
Ein Chor zitternder Stimmen antwortete ihr. »Wir wollen liier nicht weg!«
»Es werden Priester kommen. Wahrscheinlich sind sie schon unterwegs. Und Magier, die wild darauf sind, Gespenster einzusammeln, um sie in alle Ewigkeit als Diener zu versklaven.«
»Wir gehen!«
»Du«, sagte Shurq zu dem Geist vor ihr, »komm mit mir. Rede. Erzähle mir Einzelheiten.«
»Ja, ja, natürlich.«
»Lass die Laterne in Ruhe, verdammt!«
»Tut mir Leid. Schrecklich feuergefährlich, oh, was das für Flammen geben würde. Was für Flammen – all diese Tinte, die Farben!«
»Hört alle her!«, rief die Diebin. »Wir gehen jetzt! Und du da, hör auf, die Münze vor dir herzurollen – sie bleibt hier!«
»Die Siebte Schließung«, murmelte Kuru Qan, während sie zum Palast zurückgingen. »Es folgt alles einer einwärts führenden Spirale. Beunruhigend, diese Verkettung von einzelnen Ereignissen. Der Azath stirbt, eine Feste des Todes entsteht. Eine Namenlose taucht auf und ergreift irgendwie Besitz vom Leichnam eines Kindes, um dann ein Bündnis mit einem der Bewohner eines Hügelgrabs zu schließen. Ein Usurpator erklärt sich selbst zum Imperator der Tiste Edur und führt nun eine Invasion an. Zu seinen Verbündeten gehört auch ein Dämon aus dem Meer, einer mit genügend Macht, um zwei meiner besten Magier zu vernichten. Und wenn ein paar von den anderen Gerüchten stimmen, dann scheint der Imperator selbst ein Mann zu sein, der über viele Leben verfügt …«
Brys warf ihm einen Blick zu. »Was für Gerüchte?«
»Bürger haben gesehen, wie er in Trate getötet wurde. Der Imperator der Edur wurde in der Schlacht niedergehauen. Doch er ist … zurückgekehrt. Wahrscheinlich eine Übertreibung, aber meine eigenen Annahmen hinsichtlich dieser Angelegenheit lassen mich dennoch unruhig werden, Brys. Andererseits haben die Tiste Edur hervorragende Heilerinnen. Vielleicht verfügen sie über einen bindenden Spruch, der die Seele an den Körper fesselt, bis sie ankommen können … Ich muss noch länger darüber nachdenken.«
»Und Ihr glaubt, dass das alles irgendwie mit der Siebten Schließung in Verbindung steht, Ceda?«
»Mit der Wiedergeburt unseres Imperiums. Ja, das ist meine Sorge, Kämpe. Dass wir unsere alte Prophezeiung auf tödliche Weise
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