SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Rhulad. »Alle außer Udinaas. Jetzt sofort.«
Hannan Mosag öffnete den Mund, um zu widersprechen, änderte dann aber seine Meinung. Mit Hull Beddict im Schlepptau verließ der Hexenkönig das Zelt. Mayen wickelte sich in die seidenbestickte Decke der Liege und eilte hinter ihnen her, in einem Schritt Abstand folgte ihr die vor sich hin stolpernde Federhexe.
»Weib.«
Sie blieb stehen.
»Die Familie Sengar hat niemals irgendeinen Sinn darin gesehen, Sklaven zu schlagen. Du wirst damit aufhören. Wenn sie unfähig ist, such dir eine andere. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Höherer«, sagte sie.
»Dann verlass uns jetzt.«
Sobald sie gegangen waren, senkte Rhulad das Schwert und betrachtete Udinaas einige Zeit. »Wir sind all denen gegenüber, die sich einen Vorteil zu verschaffen suchen, nicht blind. Der Hexenkönig hält uns für zu jung, für zu unwissend, doch er weiß nichts von dem, was wir gesehen haben. Mayen – sie ist wie ein totes Ding unter mir. Wir hätten sie Forcht lassen sollen. Das war ein Fehler.« Er blinzelte, als würde er wieder zu sich kommen, und musterte Udinaas voller Misstrauen. »Und du, Sklave. Welche Geheimnisse verbirgst du?«
Udinaas sank auf ein Knie, sagte jedoch nichts.
»Nichts wird vor uns verborgen bleiben«, sagte Rhulad. »Schau hoch, Udinaas.«
Er tat, wie ihm geheißen, und sah ein Gespenst an seiner Seite kauern.
»Dieser Schatten wird dich untersuchen, Sklave. Er wird sehen, ob du in deinem Innern ein Gift verbirgst.«
Udinaas nickte. Ja, mach das, Rhulad. Ich bin müde. Ich will, dass das alles endlich ein Ende hat.
Das Gespenst bewegte sich auf ihn zu und hüllte ihn ein.
»Oh, was für Geheimnisse!«
Diese Stimme kannte er, und er schloss die Augen. Das war wirklich schlau, Verblichener. Ich nehme an, du hast dich freiwillig gemeldet?
»So viele von uns sind zerschmettert zurückgeblieben und wandern verloren herum. Dieses elende Monster hat uns auf üble Weise benutzt. Glaubst du etwa, wir würden seinen Forderungen bereitwillig nachkommen? Ich bin nicht gebunden und kann mich daher nützlich machen, denn ich bin gegen Zwang gefeit, wo meine Verwandten es nicht sind. Kann er den Unterschied erkennen? Offensichtlich kann er es nicht.« Das Trillern eines leicht manischen Lachens. »Und was werde ich finden? Udinaas, du musst an der Seite dieses Wahnsinnigen bleiben. Er ist auf dem Weg nach Letheras, verstehst du, und wir brauchen dich dort.«
Udinaas seufzte. Warum?
»Alles zu seiner Zeit. Oh, du fluchst über das melodramatische Getue? So ein Pech auch, haha. Ergründe meine Geheimnisse, wenn du es wagst. Du kannst es, und das weißt du auch.«
Nein. Und jetzt geh weg.
Verblichener glitt zurück, nahm vor Udinaas wieder seine übliche, umrisshaft menschenähnliche Gestalt an.
Rhulad nahm eine Hand von seinem Schwertgriff und fuhr sich ins Gesicht. Er wirbelte herum, machte zwei Schritte und heulte dann seine Wut heraus. »Warum lügen sie uns an? Wir können ihnen nicht trauen! Keinem von ihnen!« Er drehte sich um. »Steh auf, Udinaas. Du bist der Einzige, der nicht lügt. Du bist der Einzige, dem ich trauen kann.« Er ging zum Thron und setzte sich hin. »Wir müssen nachdenken. Wir müssen herausfinden, was das alles für einen Sinn ergibt. Hannan Mosag … er trachtet nach unserer Macht, nicht wahr?«
Udinaas zögerte. »Ja, Höherer, das tut er«, sagte er schließlich.
Rhulads Augen glommen rot auf. »Erzähle uns mehr, Sklave.«
»Es steht mir nicht zu –«
» Wir entscheiden, was dir zusteht. Sprich.«
»Ihr habt ihm den Thron gestohlen, Imperator. Und das Schwert, von dem er glaubt, es gehöre rechtmäßig ihm.«
»Er will es also immer noch, ja?« Ein plötzliches Lachen – so brutal, dass es Udinaas einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Oh, nur zu, er kann es gerne haben! Nein, wir können das nicht. Dürfen das nicht. Es ist unmöglich. Und was ist mit unserem Weib?«
»Mayen ist gebrochen. Sie wollte nie mehr als ein bisschen mit Euch liebäugeln. Ihr wart der jüngste Bruder des Mannes, den sie bald heiraten würde. Sie hat einfach nur nach Verbündeten im Haushalt der Sengars gesucht.« An dieser Stelle hielt er inne, als er sah, dass Rhulad wieder von Krämpfen geschüttelt wurde, dass die überwältigenden Gefühle ihn zu nah an den Rand, zu nah an den Abgrund führten – und es würde nichts bringen, ihn in jenen Abgrund zu stoßen. Noch nicht, vielleicht auch niemals. Es ist dieses Gift in mir, das so sehr
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