SdG 09 - Gezeiten der Nacht
sagte sie. »Über die Magie, die Ihr benutzt. Ich habe noch nie von Magie gehört, die den Opfern ihren Willen stiehlt und so tief in ihren Geist greift.«
»Das überrascht mich nicht«, knurrte er. »Hier in der tiefsten Provinz ist alle Zauberei roh und hässlich. Hier gibt es nichts Unterschwelliges, keine Verfeinerung der Kräfte. In Eurem Land sind die meisten Türen verschlossen. Ich bezweifle, dass es hier in den letzten zehntausend Jahren beim Studium der Zauberei irgendeine Neuerung gegeben hat.«
»Habt Dank für diese bewundernde Feststellung, Corlo. Vielleicht habt Ihr ja Lust, meiner unwissenden Wenigkeit all diese Dinge ein bisschen genauer zu erklären.«
Er seufzte. »Wo soll ich anfangen?«
»Damit, wie Ihr den Verstand von Leuten beeinflusst.«
»Mockra. Das ist der Name des Gewirrs, das ich dafür einsetze.«
»In Ordnung, schlechte Idee. Geht ein bisschen weiter zurück. Was ist ein Gewirr?«
»Nun, selbst diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, Schätzchen. Es ist ein Pfad der Magie. Alle Kräfte, die die Schöpfung beherrschen, haben einen bestimmten Aspekt. Was bedeutet –«
»Einen Aspekt. In der Art, wie die Festen einen Aspekt haben?«
»Die Festen.« Er schüttelte den Kopf. »Auf einem Wagen mit rechteckigen Rädern zu sitzen und sich zur bequemen Reise zu beglückwünschen – das sind die Festen, Freisprecherin. Sie wurden in einer Welt geschaffen, die schon lange vergangen ist, einer Welt, in der die Kräfte rauer, wilder, schlimmer waren. Die Gewirre – nun, das sind Räder ohne Ecken.«
»Ihr seid nicht gerade sonderlich hilfreich, Corlo.«
Er kratzte sich am Bart. »Verdammte Flöhe. In Ordnung. Pfade aus mit einem Aspekt versehener Magie. Ähnliche Kräfte und unähnliche Kräfte. Richtig? Unähnliche Kräfte stoßen einander ab, und ähnliche Kräfte halten zusammen, versteht Ihr? So wie Wasser in einem Fluss – alles fließt in die gleiche Richtung. Sicher, es gibt Strudel, Strömungen und so was, aber letztlich fließt doch alles abwärts. Über die Wirbel werde ich später sprechen. Also, die Gewirre sind diese Flüsse, nur dass man sie nicht sehen kann. Die Strömung ist unsichtbar, was man sehen kann, ist nur die Wirkung. Schaut Euch eine Menschenmenge auf einem Platz an, die Art und Weise, wie ihr Geist zu einem einzigen zu verschmelzen scheint. Tumulte und öffentliche Hinrichtungen – oder auch Schlachten, was das betrifft –, das sind alles Hinweise auf Mockra, sie sind das, was man sehen kann. Aber ein Magier, der einen Weg in das Mockra-Gewirr gefunden hat, nun, so ein Magier gelangt tiefer, er kann in das Wasser hineingreifen. Genauer gesagt kann dieser Magier regelrecht ins Wasser springen und mit der Strömung schwimmen. Und einen Wirbel finden und den Fluss an einem anderen Ort als dem, an dem er die Reise begonnen hat, wieder verlassen.«
»Wenn Ihr also ›Pfad‹ sagt, dann meint Ihr das im wörtlichen Sinn.«
»Nur, wenn man sich entschließt, ein Gewirr auf diese Weise zu benutzen. Mockra ist kein gutes Beispiel; meistens bringen einen die Wirbel nirgendwohin. Weil es Zauberei des Geistes ist, und der Geist viel begrenzter ist, als wir gerne glauben. Nehmt Meanas – das ist ein anderes Gewirr. Seine Aspekte sind Schatten und Illusionen, es ist ein Kind von Thyr, dem Gewirr des Lichts. Von ihm getrennt, aber mit ihm verwandt. Öffnet das Meanas-Gewirr, und Ihr könnt durch die Schatten reisen. Unsichtbar und fast so schnell wie ein Gedanke. Und Illusionen, nun dieser Aspekt zeigt die enge Verwandtschaft mit Mockra, denn dabei handelt es sich um eine Art Beeinflussung des Geistes – oder zumindest der Wahrnehmung – mittels geschickter Umgestaltung von Licht, Schatten und Dunkel.«
»Benutzen die Tiste Edur dieses Meanas-Gewirr?«, fragte Seren.
»Äh, nein. Eigentlich nicht. Sie verfügen über ein Gewirr, das normalerweise für Menschen nicht zugänglich ist. Kurald Emurlahn. Es ist Schatten, aber Schatten eher im Sinne einer Feste als eines Gewirrs. Außerdem ist Kurald Emurlahn zerbrochen. In viele kleine Stücke zerfallen. Die Tiste Edur haben nur Zugang zu einem einzigen Bruchstück, das ist alles.«
»Na gut. Mockra und Meanas und Thyr. Gibt es noch mehr?«
»Jede Menge, Schätzchen. Rashan, Ruse, Tennes, das Gewirr des Vermummten –«
»Der Vermummte. Ihr benutzt diesen Begriff, wenn Ihr flucht, nicht wahr?«
»Ja. Das Gewirr des Vermummten ist das Gewirr des Todes. Der Vermummte ist der Name des Gottes selbst.
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