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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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lasst alles heraus, aber nur einmal, das verspreche ich Euch. Ihr solltet allerdings wissen, dass eine Gefahr besteht, wenn Ihr alles herausweint. Es könnte genauso traumatisch sein wie die Vergewaltigung selbst. Aber Ihr werdet nicht in die Falle tappen, es immer und immer wieder zu wiederholen. Erlösung macht süchtig, versteht Ihr? Es wird zu einem festen Verhaltensmuster, das genauso zerstörerisch ist wie alle anderen. Wenn Ihr Euch wieder und wieder dem Kummer hingebt, verliert er jegliche Bedeutung, er wird faulig, falsch, ein Spiel der Selbsttäuschung, der Maßlosigkeit. Er wird zu einer Möglichkeit, niemals über irgendetwas hinwegzukommen.«
    »Das klingt kompliziert, Corlo.«
    »Es ist kompliziert. Ihr beendet den Krieg auf einen Schlag, und wenn Ihr Euch hinterher erinnert, spürt Ihr … nichts. Ein bisschen Reue vielleicht. Das gleiche Gefühl, das Ihr all den kleinen Fehlern entgegenbringt, die Ihr im Laufe Eures Lebens hinter Euch gelassen habt. Bedauern, aber keine Selbstbezichtigungen, denn das ist Euer wahrer Feind. Oder etwa nicht? Und ein Teil von Euch hat das Gefühl, Ihr hättet es so verdient.«
    Sie nickte, traute aber ihrer Stimme nicht und schwieg daher.
    »Dieser Teil will, dass Ihr Euch selbst bestraft.«
    Noch ein Nicken.
    Corlo sagte etwas lauter: »Bekenner, wir könnten –«
    »Ja«, sagte er und hob eine in einem Panzerhandschuh steckende Hand.
    Die Truppe machte Halt.
    Corlos Hände waren da, halfen ihr vom Pferd. Sie starrte ihn böse an. »Ihr habt angefangen, stimmt’s?«
    »Nein, Schätzchen, Ihr habt angefangen. Erinnert Ihr Euch an das, was ich über natürliche Begabung gesagt habe? Ihr habt eimerweise davon.«
    »Ich weine niemals«, sagte sie, als er sie vom Pfad weg in den angrenzenden Wald führte.
    »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Ihr habt das Gewirr da oben in Eurem Kopf, und Ihr habt den größten Teil Eures Lebens damit verbracht, es wie eine Hohemagierin zu beeinflussen. Ihr habt alles getan, damit es immer weiterging, richtig?«
    Sie blieb plötzlich stehen, schaute an ihm vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    Eisenhart war am Rand des Pfads gerade noch zu erkennen; er blickte ihnen nach.
    »Kümmert Euch nicht um ihn, Schätzchen, er macht sich einfach nur Sorgen. Er wird nicht dabei sein, wenn Ihr –«
    »Nein«, sagte sie. »Er kommt mit.«
    »Frei Sprecherin?«
    »Wenn ich anfange, auf Euch einzuschlagen, Corlo, ist es gut möglich, dass ich Euch eine oder zwei Rippen breche. Er ist härter.«
    Die Augen des Magiers weiteten sich, dann begann er zu lächeln. »Bekenner! Zögert nicht so lang.«
     
    Gewirre. Viel später erst kam Seren Pedac der Gedanke, dass sie etwas waren, das sich nicht so leicht definieren ließ – und auch nicht leicht zu begreifen war. Kräfte der Natur, ihre Muster und Neigungen. Corlos Erklärungen hatten ihr diese größtenteils verborgenen Kräfte zwar ein wenig enthüllt, aber letztlich war es das Wissen, das bereits in ihr steckte, das ihr Erlösung bot.
    Eine stark vereinfachende Welt sieht gemeinhin vier Elemente, und dabei bleibt es dann. Als könnte das Universum auf vier wahrnehmbare, angemessene Manifestationen begrenzt werden. Doch Corlo hatte noch andere Elemente erwähnt, und wenn man diese Vorstellung erst einmal akzeptiert hatte, war es, als weitete sich die Welt, als stiegen neue Farben auf, unerwartet und verblüffend in ihrer schrecklichen Schönheit.
    Zeit war ein solches Element, wie sie mittlerweile glaubte. Die Ausdehnung des Daseins zwischen Ereignissen, das aus zahllosen anderen Ereignissen bestand, alle durch ein komplexes Muster aus Ursache und Wirkung miteinander verwoben. Wie Bilder auf einem Wandteppich breiteten sie sich nebeneinander aus und schufen so eine Abfolge von Szenen, die sich – wenn man einen Schritt zurücktrat – als nebeneinander existierend herausstellten. Die alle gleichzeitig bestanden.
    Sie hatte Szenen wiederholt. Eine schlimme Erkenntnis. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, Szenen zu wiederholen. Sie hatte ihnen ihr eigenes Muster aufgezwungen, sie aller Nuancen beraubt, und hatte ihre Verzweiflung als eine folgerichtige Antwort darauf angesehen – und vielleicht war es auch die einzige folgerichtige Antwort. Die Vorstellung, intelligent zu sein, sich auf fast übernatürliche Weise der Vielzahl von Perspektiven bewusst zu sein, die sich auf alle Dinge anwenden ließen. Und das war die Falle gewesen, die ganze Zeit über – diese

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