Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
Vom Netzwerk:
magische Beschwörung namens Kummer, durch die sie die Dämonen der Selbstbezichtigung einlud, wieder und wieder auf jenem Wandteppich zu erscheinen – unterschiedliche Szenen, aber stets dieselben, boshaften Gesichter.
    Das Ritual zu entwirren hatte sich als Furcht erregend einfach erwiesen, als würde man an einem einzigen Faden ziehen. Wenn es Corlos Werk gewesen war, dann war er unglaublich raffiniert vorgegangen, denn er hatte es aussehen lassen, als wäre es ganz allein ihre Leistung gewesen. Er hatte ihr gegenübergesessen, auf der Lichtung, die sie dreißig Schritt vom Pfad entfernt gefunden hatten, mit einem gleichermaßen entspannten wie wachsamen Gesichtsausdruck, und – was wirklich merkwürdig war – sie hatte sich nicht geschämt, vor ihm zu weinen.
    Eisenhart war anfangs ruhelos auf und ab gegangen, doch als die ersten Tränen geflossen waren, hatte er damit aufgehört, und schließlich fand sie sich in seiner Umarmung wieder, ihr Gesicht gegen seinen Hals gepresst.
    Unter anderen Umständen wäre es vielleicht schmutzig gewesen. Der missbilligende Teil von ihr hätte angesichts dieses Kunstgriffs höhnisch grinsen können, als wären die einzigen aufrichtigen Gesten die kleinen – diejenigen, bei denen es keine Zuschauer gab. Als wäre wahrhaftige Aufrichtigkeit nur im Alleinsein möglich, da gesehen zu werden es bereits mit sich brachte, dass man eine Rolle spielte, und das Spielen von Rollen in sich bereits falsch war, weil es die Erwartung mit einschloss.
    In den erschöpften Nachwehen einer überraschend kurzen Zeitspanne des Loslassens, in der sie innerlich wirklich leer und ruhig zu sein schien, konnte sie erforschen, was noch übrig war, ohne dass ihre Gefühle ihr Fesseln angelegt hätten. Sie hatte sich entschieden, Vertrauen in Buruk den Bleichen zu haben, hatte geglaubt – weil es leicht gewesen war –, dass er das Leben nicht aufgeben würde. Schließlich hatte sie das auch niemals getan. Sie hatte seine ebenso unerwartete wie offensichtliche Sorglosigkeit nicht sehen wollen, die merkwürdige Offenheit in seinen Worten während der letzten paar Tage. Als er sich bereits entschieden hatte. Er hatte schließlich den Krieg kommen sehen und wollte seine eigene Rolle bei den Vorbereitungen ungeschehen machen. Wollte sich aus diesem besonderen Wandteppich herausschneiden. Doch als sie sich selbst getäuscht hatte, auf dem Pfad, der zu Kummer und Schuld führte, war Zauberei im Spiel gewesen, und das Ritual hatte etwas tröstend Vertrauliches gehabt.
    Ihrem Versagen entsprang das Bedürfnis, bestraft zu werden.
    Sie hatte die Vergewaltigung nicht herausgefordert. Kein geistig gesunder Mensch würde das tun. Aber sie hatte die Szene und all den damit verbundenen Schrecken gewoben.
    Nicht alle Dinge, die man über sich selbst erfuhr, waren angenehm.
    Und so hatte sie um ihre Fehler geweint, um ihre Schwächen und ihre Menschlichkeit. Vor zwei Zeugen, die zweifellos ihre eigene Geschichte hatten, ihre eigenen Gründe, Kummer zu empfinden.
    Aber jetzt war es vorüber. Es hatte keinen Sinn, dieses besondere Ritual zu wiederholen. Die Erschöpfung ließ sie einschlafen, und als sie erwachte, graute bereits der Morgen. Der Trupp hatte auf der Lichtung sein Lager aufgeschlagen, und mit Ausnahme von Eisenhart schliefen noch alle. Der Bekenner saß vor einer kleinen Feuerstelle und schürte die Glut, um das Feuer neu zu entfachen.
    Jemand hatte eine Decke über sie geworfen. Die Morgenluft war kühl und feucht. Seren setzte sich auf, zog sich die Wolldecke um die Schultern, stand dann auf und gesellte sich zu dem Bekenner ans rauchende Feuer.
    Er blickte nicht auf. »Freisprecherin. Habt Ihr Euch erholt?«
    »Ja, danke. Ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen sollte –«
    »Wofür? Ich habe Pferde gehört, südlich von hier.«
    »Das müsste Brauss sein. Dort gibt es eine kleine Garnison.«
    »Brauss ist eine Stadt?«
    »Ein Dorf, inmitten steinerner Ruinen. Es war einst eine heilige Stätte der Tarthenal, auch wenn sie sie nicht gebaut haben.«
    »Woher wisst Ihr das?«
    »Die Größenverhältnisse passen nicht zu Tarthenal.«
    »Ist alles zu klein?«
    »Nein, zu groß.«
    Er blickte auf, blinzelte und stand dann auf. »Es ist Zeit, was zu essen zu machen, glaube ich.«
    »Ihr seid ein merkwürdiger Offizier, Eisenhart«, sagte Seren lächelnd. »Immer kocht Ihr das Frühstück für Eure Soldaten.«
    »Ich wache immer als Erster auf«, sagte er, während er einen Sack mit Lebensmitteln zu sich

Weitere Kostenlose Bücher