SdG 09 - Gezeiten der Nacht
»Aber eine Menge Leute schulden mir was.«
Er begab sich auf das Gelände. Die Erde unter seinen abgetragenen Sandalen war heiß. Die meisten Insekten waren gestorben oder hatten sich gehäutet, und ihre Kadaver zerbrachen knisternd unter seinen Sohlen. Verwelkte Wurzeln waren an die Oberfläche gedrückt worden, zerbrochen und abgeschält. Fleckige Knochen waren zu sehen, zertrümmerte Schädel und zerbrochene Oberschenkelknochen, und gelegentlich eine übergroße Wirbelsäule. Überall um ihn herum waren die eingestürzten Überreste von Hügelgräbern.
So viel Geschichte war verloren gegangen, unter dieser dampfenden Erde zerstört worden. Doch das hatte auch etwas Gutes, denn das meiste davon war unangenehm. Unglücklicherweise waren noch ein paar uralte Albträume übrig geblieben. Die bösartigsten, genauer gesagt.
Und einer von ihnen hatte geschworen zu helfen. Gegen die anderen.
Bagg kam zu dem Schluss, dass das alles in allem keine besonders vielversprechende Situation war.
»Ein Fremder ist hier.«
Er blieb stehen, runzelte die Stirn. »Wer spricht da?«
»Meine Brüder heißen dich willkommen. Ich heiße dich willkommen. Komm näher. Streck die Hand aus, zieh uns raus. Deine Belohnung wird unermesslich groß sein.«
»Genau wie mein Bedauern. Nein, ich fürchte, ich kann dir diesen Gefallen nicht tun, Toblakai.«
»Du hast schon einen Schritt zu viel getan, Fremder. Es ist zu spät. Wir werden dich benutzen –«
Eine Woge der Macht rauschte in Baggs Geist, versuchte, ihn zu beherrschen – und war dann wieder fort.
»Nein. Nicht du. Komm nicht näher.«
»Es tut mir Leid, dass ihr mich so ungenießbar gefunden habt.«
»Geh weg.«
»Dir und deinen Brüdern steht ein Kampf bevor«, sagte Bagg. »Das wisst ihr, oder?«
»Wir sind unbesiegbar.«
»Oh, wie oft werden diese Worte gesprochen. Wie viele eurer Mitgefangenen haben genau das Gleiche gesagt, zu diesem oder jenem Zeitpunkt? Immer dieser Dünkel des Augenblicks.«
»Nichts davon geht uns etwas an.«
»Du hast Recht. Es geht euch wirklich nichts an. Aber ich muss euch warnen: das Kind – Kessel – darf keinen Schaden erleiden.«
»Sie bedeutet uns nichts.«
»Gut. Sorgt dafür, dass das so bleibt.«
»Sei vorsichtig mit deinen Drohungen, Fremder.«
»Oh. Ihr versteht es nicht, stimmt’s? Wenn ihr das Kind angreift, wird das Wesen erwachen, das sich in ihr verbirgt. Und dieses Wesen wird euch auslöschen – euch und vermutlich auch alle anderen mit.«
»Wer verbirgt sich in dem Kind?«
»Seinen Namen kenne ich nicht, aber es ist ein Forkrul Assail.«
»Du lügst.«
Der Diener zuckte die Schultern, drehte sich um und ging dorthin zurück, wo Kessel auf ihn wartete. Es bleibt immer noch genug Zeit, um einkaufen zu gehen, dachte er.
König Ezgara Diskanar saß auf seinem Thron, reglos, blass wie gepuderter Marmor, und blickte unter halb geschlossenen Lidern heraus Nifadas, den Ersten Eunuchen, an. Die Szene wäre etwas für einen Künstler gewesen, fand Brys. Voller feierlichem Ernst, mit dunklen, gesättigten Farben, bereits gezeichnet vom bevorstehenden großen Niedergang. All das steckte in diesem erstarrten Augenblick. Der Abend vor der Siebten Schließung hätte der Maler es vielleicht nennen können, mit stillem Vergnügen angesichts der Vielzahl von Bedeutungen, die in diesem Titel verborgen waren.
Doch es gab keinen Künstler, keinen Geier, der rotäugig und gluckend auf den Flügeln des zusammenfallenden Bauwerks der Zivilisation saß. Die Zuschauerschaft bestand aus Brys, Nisall, der Ersten Konkubine, Preda Unnutal Hebaz und vier Mitgliedern der Königlichen Garde.
Die Sonne draußen stand mittlerweile tief genug, um Speere aus gespenstischem Licht durch die fleckigen Glaseinsätze der Kuppel zu schicken, die den tanzenden Stäubchen hässliche Farbtöne verliehen. Es roch nach Schweiß und dem Rauch der Laternen.
»Dies ist es also«, sagte König Ezgara endlich, »was mein Volk erwartet.«
Die kleinen Augen des Ersten Eunuchen blinzelten. »Majestät, die Vorstellung eines neuen obersten Herrn ist den Soldaten alles andere als willkommen. Sie werden kämpfen, um Euch zu verteidigen.«
»Davon habe ich bisher allerdings kaum etwas bemerkt, Nifadas.«
Jetzt meldete sich die Preda zu Wort. »Majestät, es war sehr schnell ersichtlich, dass wir unserem Feind angesichts der Zauberei, die ihm zur Verfügung steht, auf konventionelle Weise nicht gewachsen sind. Es war taktisch sinnvoll, den Rückzug anzutreten
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