SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Verkommenheit und dem Wahnsinn seines Volkes ein Ende zu bereiten. Dass Brys’ Tod sein musste, um den Sieg zu erringen, war die letzte Schicht Asche, die Hulls Seele verhüllte. Es würde keine Absolution geben.
Doch auch so blieb Hull noch eine Verpflichtung. Als die dritte Kompanie der Tiste Edur durch das Stadttor strömte und in die Stadt eindrang, drehte er sich um und machte sich daran, einem Seitengässchen zu folgen.
Er musste mit Tehol sprechen. Um ihm alles zu erklären. Um seinem Bruder zu sagen, dass er von den Täuschungen und Plänen wusste. Tehol war, wie Hull hoffte, vielleicht der einzige Mensch in ganz Letheras, der ihn nicht hassen würde für das, was er getan hatte. Er musste mit ihm sprechen.
Er brauchte so etwas wie Vergebung.
Dafür, dass er vor all den Jahren nicht da gewesen war, um ihre Eltern zu retten.
Dafür, dass er jetzt nicht da sein konnte, um Brys zu retten.
Vergebung. Eine einfache Sache.
Udinaas stand bei den anderen Sklaven der Sengars und wartete, bis sie an der Reihe waren, Letheras zu betreten. Die Nachricht hatte bereits die Runde gemacht, dass es irgendwo weiter vorn zu Kämpfen gekommen war. Uruth stand ganz in der Nähe. Mayen war bei ihr, in einen schweren Umhang gehüllt; ihr Gesicht war zerfurcht, und ihre Augen wirkten wie die eines gehetzten Tieres. Uruth blieb immer dicht bei ihr, als fürchtete sie, die jüngere Frau könnte versuchen zu flüchten. Wobei es ihr dabei nicht so sehr um Mayen ging. Das Kind war jetzt alles, was zählte.
Arme Mayen.
Er wusste, wie sie sich fühlte. Etwas wie ein Fieber packte ihn, ein drängendes Verlangen in seinem Blut. Schweiß rann ihm unter der Tunika am Körper hinunter. Seine Haut fühlte sich an, als würde sie brennen. Er verhielt sich ganz still, blieb am äußersten Rand stehen; er fürchtete, die Kontrolle zu verlieren.
Das Gefühl war ganz plötzlich über ihn gekommen, wie eine Woge der Panik in seinem Innern, ein gesichtsloses Entsetzen. Und es wurde schlimmer -
In seinem Kopf begann sich alles zu drehen, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, was geschah. Und dann strömte das Grauen durch Udinaas hindurch.
Der Wyrm.
Er erwachte in ihm zum Leben.
Mit B’nagga an der Spitze drangen die Jheck in die Stadt vor. Wechselgänger, die mit gesenkten Köpfen dahintrotteten und alle den Geruch ihres Gottes suchten. Und sie fanden ihn in den von Angst säuerlich gefärbten Strömungen, die durch Letheras trieben. Der Geruch verriet, dass er ungeduldig war – ungeduldig und wütend.
Fröhliches Geheul, das durch die Stadt klang und in den Straßen widerhallte – ein Geheul aus mehr als neuntausend Wolfskehlen. Ein Geheul, das Furcht in den Herzen der sich versteckenden Bürger säte. Neuntausend Wölfe mit weißem Fell rasten auf mehr als einem Dutzend unterschiedlicher Wege dem alten Tempel entgegen, ein auf einen einzigen Punkt gerichteter Sturm aus tierischem Wahnsinn.
B’nagga stimmte in das kalte Schauer erzeugende Geheul ein, sein Herz barst schier vor wilder Freude. Die Meute wartete auf sie. Dämonen, Gespenster, Tiste Edur und verdammte Imperatoren hatten jetzt keine Bedeutung mehr. Nichts weiter als kurzfristige Verbündete, weil es gerade so schön gepasst hatte. Doch jetzt würde hier in Letheras der Aufstieg der Jheck beginnen. Ein Imperium aus Wechselgängern, mit einem Imperator, der zugleich ein Gott war, auf dem Thron. Rhulad in Stücke gerissen, alle Edur zu blutigem, süß schmeckendem Fleisch zerfetzt, Mark aus zerschmetterten Knochen, geborstene Schädel, Hirn, das man verschlingen konnte.
Dieser Tag würde mit einem Gemetzel enden, das niemand, der es überlebte, jemals vergessen würde.
Dieser Tag, sagte sich B’nagga mit einem lautlosen Lachen, gehörte den Jheck.
Dreiundsiebzig seiner besten Soldaten bildeten hinter Moroch Nevath einen Schildwall. Sie hielten die wichtigste Brücke über den Hauptkanal, ein passender Ort für dieses armselige Drama. Und was das Beste war – direkt hinter ihnen lag die Dritte Stufe, auf der mittlerweile Bürger aufgetaucht waren. Zuzuschauen war eine besondere Begabung der Letherii. Zweifellos wurden Wetten abgeschlossen, und zumindest würde Moroch Nevath Publikum haben.
Die verschleierten Blicke, die Gerüchte über sein feiges Verhalten bei Hochfort – das alles würde heute endlich ein Ende nehmen. Es war nicht viel, aber es würde genügen.
Er erinnerte sich daran, dass er Turudal Brizad versprochen hatte, etwas für ihn zu
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