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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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tut mir Leid.
     
    Bagg war nicht völlig überrascht, als er feststellte, dass er sich praktisch allein auf der Stadtmauer befand. Niemand hatte ihn zur Rede gestellt, als er hinaufgestiegen war; es schien, als hätten sich alle Wachsoldaten zu verschiedenen Engpässen der Stadt zurückgezogen. Ob sie starrsinnig sein und sich zur Verteidigung aufraffen würden, blieb natürlich abzuwarten. Jedenfalls hatte ihre Anwesenheit dafür gesorgt, dass die Straßen zum größten Teil leer waren.
    Der Diener lehnte sich auf eine Schartenbacke und schaute zu, wie die Armee der Edur über die Weststraße näher rückte. Ein gelegentlicher Blick nach links erlaubte ihm, das Herannahen der Flotte und des riesigen, tödlichen Dämons unter ihr zu verfolgen – eine Präsenz, die die gesamte Breite des Flusses einnahm und sich eineinhalb Meilen lang erstreckte. Eine schreckliche, brutale Kreatur, die an ihren magischen Ketten zerrte.
    Das Westtor stand offen und war unbewacht. Die Vorhut der Edur-Armee war bis auf tausend Schritt herangekommen und rückte vorsichtig näher. Die ersten Wechselgänger-Wölfe kamen ebenfalls in Sicht, sie strichen an beiden Seiten der Marschsäule der Edur entlang, streiften durch die Gräben und über die Felder.
    Bagg seufzte und warf dem anderen Mann auf der Mauerkrone einen Blick zu. »Ich nehme an, Ihr werdet schnell arbeiten müssen.«
    Der Künstler war ein in Letheras wohl bekannter und leicht zu erkennender Mann. Eine gewaltige Mähne wallte von seinem Schädel und vereinigte sich mit dem wilden Bart, der sein Kinn und seinen Hals verdeckte. Seine Knollennase und seine kleinen blauen Augen waren das Einzige, das von seinem Gesicht zu erkennen war. Er war klein und drahtig und malte voller Aufregung und Enthusiasmus – oft auf nur einem Bein stehend –, indem er Farbe auf eine Oberfläche schmierte, die immer zu klein für das Bild zu sein schien, das er im Kopf hatte und umsetzen wollte. Dieses Fehlen von Perspektive war schon seit langem erst in den Stand einer Technik, dann eines zulässigen Stils erhoben worden – soweit künstlerische Stile überhaupt zulässig sein konnten. Bei Baggs Bemerkung machte er ein finsteres Gesicht und stellte sich auf ein Bein, presste den Fuß des anderen Beins gegen das Knie seines Standbeins. »Die Szene, du Narr! Sie ist in mein Gedächtnis eingebrannt, hier hinter diesem Auge, dem linken. Ich vergesse nichts. Ich erinnere mich an jede Einzelheit. Geschichtswissenschaftler werden mein Werk dieses Tages rühmen, du wirst schon sehen. Rühmen werden sie es!«
    »Dann seid Ihr also fertig?«
    »Fast, bis auf ein winziges, klitzekleines bisschen. Ja – ich habe es so gut wie geschafft. Mit allen Einzelheiten. Er hat es wieder getan. Das werden sie sagen. Ja, ich habe es wieder getan.«
    »Darf ich mal sehen?«
    Plötzliches Misstrauen.
    »Ich bin selbst so etwas wie ein Historiker«, fügte Bagg hinzu.
    »Seid Ihr das? Habe ich etwas von Euch gelesen? Seid Ihr berühmt?«
    »Berühmt? Vermutlich. Aber ich bezweifle, dass Ihr etwas von mir gelesen habt, denn ich habe noch nichts geschrieben.«
    »Oh, ein Vortragender!«
    »Ein Gelehrter, der das Meer der Geschichte durchschwimmt.«
    »Das gefällt mir. Das könnte ich malen.«
    »Darf ich nun also Euer Gemälde sehen?«
    Eine große Geste mit einer vielfarbigen Hand. »Dann kommt her, alter Freund. Seht mein Genie mit eigenen Augen.«
    Das Brett auf der Staffelei war breiter als es hoch war, wie in der Landschaftsmalerei üblich oder auch, wenn ein beeindruckender oder geschichtlicher Augenblick festgehalten werden sollte. Es war mindestens zwei Armlängen breit. Bagg ging um die Staffelei herum, um einen Blick auf das Bild zu werfen.
    Und sah zwei Farbflächen, die grob diagonal voneinander getrennt waren. Fleckiges Rot zur Rechten, schlammiges Braun zur Linken. »Außerordentlich«, sagte Bagg. »Und was habt Ihr hier festgehalten?«
    »Was es ist? Seid Ihr blind?« Der Maler deutete mit seinem Pinsel. »Die Marschsäule! Die sich nähernden Edur, die gewaltige Armee! Und natürlich die Standarte. Die Standarte!«
    Bagg blinzelte in die Ferne zu jenem winzigen rötlichen Fleck, der die Standarte der Vorhut darstellte. »Oh, natürlich. Jetzt kann ich es erkennen.«
    »Und meine Brillanz blendet Euch, ja?«
    »Oh ja, in der Tat ist meinen Augen jegliches Vorstellungsvermögen geraubt worden.«
    Der Künstler wechselte geschickt das Standbein und thronte nachdenklich da, starrte stirnrunzelnd der

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