SdG 09 - Gezeiten der Nacht
aktiv gewesen, sagen diejenigen, die die Fliesen werfen.«
»Wann hast du das letzte Mal mit jemandem gesprochen, der oder die die Fliesen wirft?«
Seren zögerte. Sie erinnerte sich an Federhexes Bemühungen. Damals war darauf hingewiesen worden, dass alles im Fluss war. »Also gut. Drachenspuren.« Die Vorstellung, dass Drachen auf dieser Welt erscheinen würden, war entsetzlich. »Aber ich verstehe nicht ganz, was das mit den Tiste Edur zu tun haben soll –«
»Seren, dir müsste mittlerweile klar geworden sein, dass die Tiste Edur Drachen anbeten. Vater Schatten, die drei Töchter – das sind alles Drachen. Oder Wechselgänger. In den Tiefen einer Felsspalte nicht allzu weit von hier befindet sich der zerschmetterte Schädel eines Drachen. Ich glaube, dass dieser Drache Vater Schatten ist – derjenige, den die Edur Scabandari Blutauge nennen. Vielleicht ist dies der Ursprung des Verrats, der den Kern der Religion der Edur zu bilden scheint. Dort habe ich ebenfalls Spuren gefunden. Fußspuren, die von Edur stammen.«
»Und was für einen Schluss hast du aus all diesen Dingen gezogen, Hull?«
»Es wird Krieg geben. Einen vom Schicksal bestimmten Krieg, geboren aus einem neuen Gefühl von Bestimmung. Ich fürchte um Hannan Mosag, denn ich glaube, er hat einen Drachen am Schwanz gepackt – und das vielleicht nicht nur symbolisch. Und das könnte sich selbst für ihn und seine K’risnan als zu viel erweisen.«
»Hull, der Hexenkönig herrscht nicht mehr über die Edur.«
Einen Herzschlag lang zeichnete sich Erschrecken auf Hulls Gesicht ab; dann verdüsterte es sich. »Hat die Delegation ein paar Assassinen mitgebracht?«
»Er wurde noch vor Ankunft der Delegation abgesetzt«, erwiderte sie. »Ach, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es geht um Binadas’ Bruder, um Rhulad. Er wurde getötet und ist wieder auferstanden; er war im Besitz eines Schwertes – ein Geschenk, das Hannan Mosag eigentlich haben wollte. Rhulad hat sich zum Imperator erklärt. Und Hannan Mosag ist vor ihm niedergekniet.«
Hulls Augen schimmerten. »Genau, wie ich gesagt habe. Bestimmung.«
»Willst du es so nennen?«
»Ich kann den ärgerlichen Unterton in deiner Stimme hören, Freisprecherin.«
»Von Bestimmung zu sprechen ist eine Lüge. Von Bestimmung zu sprechen dient als Rechtfertigung für Greueltaten. Der Verweis auf die Bestimmung ist das, womit sich Mörder dagegen wappnen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es ist ein Wort, das anstelle von Ethik gebraucht wird und jeglichen moralischen Zusammenhang leugnet. Hull, du wirfst dich dieser Lüge an den Hals, und das nicht aus Unwissenheit.«
Sie hatten die Brücke erreicht. Hull Beddict blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Du hast mich einmal gut gekannt, Seren Pedac. So gut, dass du mir mein Leben zurückgeben konntest. Ich weiß das sehr wohl, genauso, wie ich weiß, wer du bist. Du bist ehrenhaft – und das in einer Welt, die die Ehre verschlingt. Und ich wollte, ich wäre in der Lage gewesen, mehr von dir anzunehmen als ich es getan habe, um so zu werden wie du. Oder auch nur, um mein Leben mit deinem zu verknüpfen. Aber ich verfüge nicht über deine Stärke. Ich konnte mich nicht umgestalten.« Er musterte sie ein, zwei Herzschläge lang und fuhr dann fort, ehe sie antworten konnte. »Du hast Recht, ich bin nicht blind. Ich weiß, was es bedeutet, ein vorherbestimmtes Schicksal anzunehmen. Was ich dir zu sagen versuche, ist einfach, dass es das Beste ist, was ich tun kann.«
Sie wich zurück, als wäre sie von mehreren Schlägen getroffen worden. Dann blickte sie ihm in die Augen, und in diesen Augen sah sie, dass er die Wahrheit sagte, dass sein Geständnis ehrlich gemeint war. Sie wollte schreien, wollte ihrem Ärger Luft machen – ein Geräusch, das durch die ganze Stadt hallen sollte, um endlich und unwiderlegbar auf all das zu antworten, was geschehen war.
Aber nein. Ich bin eine Närrin, wenn ich glaube, dass die anderen das Gleiche empfinden wie ich. Die Flut steigt, und es gibt herzlich wenige, die sich ihr entgegenstellen können.
Herzzerreißend sanft streckte Hull eine Hand aus und ergriff ihren Arm. »Komm, lass uns dem Ersten Eunuchen einen Besuch abstatten.«
»Immerhin«, versuchte es Seren, als sie die Brücke überquerten, »ist deine eigene Haltung jetzt deutlich weniger bedeutsam, so dass du nun nicht mehr so gefährdet bist, wie du es sonst vielleicht gewesen wärst.«
»Glaubst du?«
»Du nicht?«
»Das kommt darauf an.
Weitere Kostenlose Bücher