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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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habe ich nicht mehr.«
    »Sag uns, Hull Beddict, wird die mächtige Flotte der Letherii sich in die Wogen begeben, um uns herauszufordern?«
    »Nein, das glaube ich nicht. Zumindest nicht gleich am Anfang.«
    »Und ihre Armeen?«
    »Laut ihrer Doktrin wird es am Anfang eine Phase des Dahinfließens geben, eine bewegliche Verteidigung, die Eure Kräfte immer weiter herauslockt. Dann der Gegenangriff. Weit reichende Attacken, um Eure Nachschublinien zu durchtrennen. Angriff und Rückzug, Angriff und Rückzug. In der dritten Phase werden sie Eure Armeen umzingeln, um sie endgültig auszulöschen. Ihre Flotten werden jedes Seegefecht vermeiden, denn sie wissen, dass Ihr an Land gehen müsst, um Lether zu erobern. Ich vermute, dass sie stattdessen ihre Schiffe knapp außer Sichtweite vor der Küste stationieren und dann Euer Heimatland angreifen werden. Diese Dörfer hier, die sie niederbrennen werden. Und jeder Tiste Edur, den sie hier finden – ob alt, ob jung –, wird abgeschlachtet werden.«
    Rhulad grunzte und sagte dann: »Sie halten uns für Narren.«
    »Die Truppen der Letherii sind geschmeidig, Imperator. Ihre Soldaten sind dazu ausgebildet, sich schnell an neue Gegebenheiten anzupassen, sofern es die Umstände erfordern. Eine Furcht erregende, tödliche Macht, hervorragend ausgebildet und -wenn sie die Hochstraßen benutzt, die ausschließlich zu diesem Zweck gebaut wurden – erschreckend beweglich. Schlimmer noch, sie sind in der Überzahl –«
    »Wohl kaum«, unterbrach ihn Rhulad lächelnd. »Die Edur verfügen über neue Verbündete, Hull Beddict, wie du schon bald entdecken wirst. Sehr gut, wir sind zufrieden, und wir kommen zu dem Schluss, dass du dich für uns als nützlich erweisen könntest. Geh jetzt zum Haus unseres Vaters und begrüße Binadas, der erfreut sein wird, dich zu sehen.«
    Der Letherii verbeugte sich und verließ das Zimmer.
    »Hannan Mosag«, rief Rhulad leise.
    Ein Vorhang an einer der Seitenwände wurde beiseite geschoben, und Udinaas sah den ehemaligen Hexenkönig hereinkommen.
    »Es scheint«, sagte Rhulad, »als wärest du durch deine Studien des Militärs der Letherii zu einer zutreffenden Einschätzung gelangt. Seine Beschreibung ihrer Taktiken und Strategien passt genau zu der deinen.«
    »Wann wird es beginnen, Imperator?«
    »Machen die Stämme sich bereit?«
    »Mit vollem Eifer.«
    »Dann schon sehr bald. Sag uns, was du über Nifadas und den Prinzen denkst.«
    »Nifadas hat schnell begriffen, dass alles verloren war, aber der Prinz betrachtet diese Niederlage als Sieg. Gleichzeitig vertrauen beide auf die überragende Tüchtigkeit des Militärs ihres Königreichs. Nifadas trauert um uns, Imperator.«
    »Der arme Mann. Vielleicht hat er sich durch dieses fehlgeleitete Mitgefühl unser Mitleid verdient.«
    »In Anbetracht des Weges, den Ihr für unser Volk eingeschlagen habt, Imperator, ist es gefährlich, den Gedanken an Mitleid weiterzuverfolgen. Ihr könnt gewiss sein, dass uns auch kein Mitleid gewährt werden wird.«
    Ein weiteres Zucken quälte Rhulad, genau wie das, das Udinaas vorhin beobachtet hatte. Er glaubte zu wissen, wo dieses Zucken herkam. Tausend Bindungen hielten Rhulads geistige Gesundheit zusammen, doch der Wahnsinn griff diese Gesundheit an, und die Verteidigungsanlagen gaben allmählich nach. Vor noch nicht allzu langer Zeit war Rhulad einfach nur der jüngste Sohn einer adligen Familie gewesen, der zwar schon durch das Dorf stolzierte, aber noch ungeblutet war. In seinen Gedanken kreisten allumfassende Visionen von Ruhm langsam um die Stelle, an der er selbst stand. Die Visionen eines Jugendlichen, voll eingebildeter Szenarien, in denen Rhulad sich frei an seiner Gewissheit üben und so die Rechtschaffenheit seines Willens beweisen konnte.
    Und jetzt saß dieser Junge auf dem Thron der Edur.
    Er brauchte nur zu sterben, um da hinzukommen.
    Die plötzliche Manifestation des Ruhms nährte ihn noch immer, genug, um seine Worte und Gedanken zu formen und sein herrschaftliches Gehabe zu nähren, als wäre er in das königliche ›wir‹ hineingeboren worden. Dabei konnte er die Kontrolle darüber nur mit Mühe aufrechterhalten. Eine unvollkommene Fassade, unterlegt mit kunstvoll gedrechselten Sätzen, einer Art unbeholfener Artikulation, die zu Rhulads kindischen Vorstellungen passte, wie ein Imperator sprechen sollte. Es waren Spiele, die ihn selbst genauso überzeugen sollten wie seine Zuhörer.
    Doch in Rhulads Kopf waren auch noch andere Gedanken,

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