SdG 09 - Gezeiten der Nacht
diesem Gefühl heimgesucht werden konnte, hatte etwas höchst Befriedigendes. Andererseits – vielleicht habe ich Rhulads Verhalten falsch gedeutet. Vielleicht ist Furcht das beherrschende Gefühl im tiefsten Innern des Monsters, zu dem er geworden ist. Spielte es eine Rolle? Nur wenn Udinaas danach strebte, das Spiel der Vorhersage zu spielen.
War es die Mühe wert?
»Die Den-Ratha sind westlich der Robbenbucht«, sagte Hannan Mosag. »Die Merude können den Rauch ihrer Dörfer sehen.«
»Wie viele kommen übers Meer?«
»Ungefähr achttausend. Mit allen ihren Schiffen. Die meisten von ihnen sind natürlich Krieger. Der Rest reist über Land, und die ersten Gruppen haben bereits die Grenze zum Gebiet der Sollanta erreicht.«
»Wie sieht es mit Vorräten aus?«, fragte der Imperator.
»Die reichen für die Reise.«
»Und sie haben nichts zurückgelassen?«
»Nichts als Asche, Höherer.«
»Gut.«
Udinaas sah, wie Hannan Mosag kurz zögerte, ehe er sagte: »Es hat bereits angefangen. Nun gibt es kein Zurück mehr.«
»Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen«, erwiderte Rhulad. »Ich habe bereits Gespenster in die Grenzlande geschickt. Sie beobachten. Schon bald werden sie die Grenze überschreiten und nach Lether vordringen.«
»Die Grenzzauberer des Ceda werden sie entdecken.«
»Ja, das werden sie. Aber die Gespenster werden nicht kämpfen. Sondern einfach fliehen. Ich möchte ihre Macht nicht jetzt schon offenbaren. Stattdessen habe ich vor, auf der Gegenseite für ein übersteigertes Selbstvertrauen zu sorgen.«
Die beiden Edur unterhielten sich weiter über Strategien. Udinaas hörte zu – nur ein Gespenst mehr im Dämmerlicht.
Trull sah zu, wie sein Vater mit pedantischer Entschlossenheit wieder eine Art Zuversicht aufbaute. Er reihte Worte aneinander, die er laut aussprach, die aber offensichtlich nur für ihn selbst gedacht waren. Sein Weib hingegen hatte noch immer das Gesicht einer alten, gebrochenen Frau. Der Tod war über ihr Haus gekommen, nur um von einer grässlichen Wiederkehr zerschmettert zu werden, einer Wiederbelebung, die nichts bot, worüber man sich hätte freuen können. Ein König war von seinem Thron gestoßen worden, und an seiner Stelle hatte sich ein Imperator erhoben. Die Welt war aus der Bahn geworfen, und Trull stellte fest, dass er sich wie losgelöst und betäubt fühlte, während er Zeuge dieser schmerzhaften, quälenden Szenen wurde, in denen man sich an den unzähligen Facetten der Versöhnung versuchte und die in erschöpftem Schweigen endeten, in dem die Spannungen langsam zurückkehrten und von Fehlschlägen flüsterten.
Sie waren alle ausnahmslos vor ihrem neuen Imperator niedergekniet. Vor dem Bruder und Sohn, dem Blutsverwandten, der gestorben war und nun von Goldmünzen bedeckt dasaß. Eine Stimme, die gelitten hatte, aber noch zu erkennen war. Augen, die jemandem gehörten, den sie einst alle gekannt hatten, und die jetzt fiebrig vor Macht glänzten und in denen die unverheilten Wunden des Entsetzens schimmerten.
Forcht hatte seine Verlobte aufgegeben.
Eine schreckliche Sache.
Rhulad hatte sie für sich gefordert. Und das war … obszön.
Nie zuvor hatte sich Trull so hilflos gefühlt wie jetzt. Er wandte den Blick von seinem Vater ab und sah dorthin, wo Binadas sich leise mit Hull Beddict unterhielt. Dem Letherii, der Rhulad den Treueeid geschworen hatte, der sein eigenes Volk verraten würde – in dem Krieg, von dem Trull wusste, dass er nun unvermeidbar war. Wie ist es nur so weit gekommen? Wie können wir diesen unerbittlichen Marsch stoppen?
»Kämpfe nicht dagegen an, Bruder.«
Trull richtete den Blick auf Forcht, der neben ihm auf der Bank saß. »Wogegen soll ich nicht ankämpfen?«
Der Gesichtsausdruck seines Bruders war hart, fast wütend. »Er trägt das Schwert, Trull.«
»Diese Waffe hat nichts mit den Tiste Edur zu tun. Sie ist fremd, und sie versucht denjenigen, der sie schwingt, zu unserem Gott zu machen. Sollen Vater Schatten und seine Töchter jetzt einfach beiseite geschoben werden?«
»Das Schwert ist nichts weiter als ein Werkzeug. Es liegt an uns – an denjenigen um Rhulad herum –, an der Unverletzlichkeit unserer Überzeugungen festzuhalten, diese Struktur zu bewahren und Rhulad so zu führen.«
Trull starrte Forcht an. »Er hat deine Verlobte gestohlen.«
»Wenn du noch einmal davon sprichst, werde ich dich töten, Bruder.«
Er wandte rasch den Blick ab und konnte spüren, wie sein Herz hart und schnell in seiner
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