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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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zerrissenen Hals baumelte. Eingeweide, die aus einem aufgeschlitzten Bauch quollen. Mit Krallen versehene, dreizehige Füße. Gezackte Schwänze. Missgestaltete Rüstungen und Harnische aus Leder, Streifen hell getönter Stoffe, die wie Seide schimmerten.
    »Was sind das für Dinger?«
    Udinaas schüttelte den Kopf. »Diese Stadt wurde von Eis zerschmettert, im selben Moment, als sie aus unserer Welt gerissen wurde. Und dieses Eis war ganz offensichtlich voll eigener alter Geheimnisse.«
    »Warum hast du uns hierher gebracht?«
    Er wandte sich ihr zu, kämpfte gegen seinen Ärger an, und schaffte es, ihn mit einem langen Seufzer auszustoßen. Dann sagte er: »Federhexe, welche Fliese hast du in der Hand gehalten?«
    »Eine von den Angelpunkten. Feuer.« Sie zögerte, fuhr dann fort: »Als ich dich das erste Mal gesehen habe …, da habe ich gelogen, als ich gesagt habe, dass ich sonst nichts gesehen hätte. Dass ich niemanden gesehen hätte.«
    »Du hast sie gesehen, stimmt’s?«
    »Schwester Dämmer, die Flammen –«
    »Und du hast gesehen, was sie mit mir gemacht hat.«
    »Ja.« Das Wort war nur ein Flüstern.
    Udinaas wandte sich ab. »Dann habe ich es mir also nicht eingebildet«, murmelte er. »Es waren keine Ausgeburten meiner Phantasie. Kein … Wahnsinn …«
    »Es ist ungerecht. Du, du bist nichts. Ein Schuldner. Ein Sklave. Der Wyrm war für mich gedacht. Für mich, Udinaas!«
    Er zuckte vor ihrer Wut zurück – und begriff in diesem Augenblick endlich, was eigentlich geschehen war. Er zwang sich zu einem bitteren Lachen. »Du hast ihn heraufbeschworen, stimmt’s? Den Wyrm. Du wolltest sein Blut, und er hatte dich, und daher hätte sein Gift dich anstecken müssen. Aber das ist nicht geschehen. Stattdessen hat das Blut mich gewählt. Wenn ich könnte, würde ich es dir geben, Federhexe. Mit Vergnügen  – nein, das stimmt nicht, so gerne ich auch wollte, dass dem so wäre. Sei dankbar dafür, dass dieses Blut nicht in deinen Adern fließt. Denn es ist tatsächlich der Fluch, als den du es bezeichnet hast.«
    »Besser verflucht zu sein als –« Sie verstummte, blickte weg.
    Er musterte ihr blasses Gesicht und die blonden, krausen Haare darum herum, die im schwachen, kaum wahrnehmbaren Wind zitterten. »Als was, Federhexe? Als eine Sklavin zu sein, das Kind von Sklaven. Dazu verdammt, endlosen Träumen von Freiheit zu lauschen – ein Wort, das du nicht verstehst, das du vermutlich nie verstehen wirst. Die Fliesen sollten dir den Weg nach draußen ebnen, stimmt’s? Du hast sie nicht genommen, um den anderen Letherii zu dienen. Du hast sie für dich genommen. Du hast tief im Innern der Fliesen ein Flüstern gehört. Von Freiheit. Oder von etwas, von dem du geglaubt hast, es wäre Freiheit. Nur als unmaßgebliche Anmerkung, Federhexe: ein Fluch ist keine Freiheit. Jeder Pfad ist eine Falle, eine Fußangel, um dich in die Spiele von Mächten zu verstricken, die jenseits unseres Begreifens liegen. Wenn diese Mächte Sterbliche benutzen, bevorzugen sie wahrscheinlich Sklaven, denn Sklaven verstehen die Art der auferlegten Beziehung.«
    Sie starrte ihn finster an. »Und warum bist du dann ausgewählt worden?«
    »Und nicht du?« Er blickte weg. »Weil ich nicht von Freiheit geträumt habe. Vielleicht deswegen. Bevor ich Sklave geworden bin, war ich Schuldner – woran du mich bei jeder Gelegenheit erinnerst. Schulden erzeugen eine eigene Form der Sklaverei, Federhexe; das Ganze ist ein System, das vor allem eines sicherstellen soll: dass so wenigen wie möglich die Flucht gelingt, wenn sich die Ketten der Schulden erst einmal um sie geschlossen haben.«
    Sie hob die Arme und starrte ihn an. »Sind wir tatsächlich hier? Es wirkt alles so echt.«
    »Ich bezweifle es«, erwiderte Udinaas.
    »Wir können nicht hier bleiben?«
    »In der Welt der Fliesen? Das musst du mir sagen, Federhexe.«
    »Das ist nicht die Sphäre, von der du geträumt hast, oder?« Er zog eine Grimasse, um seine Erheiterung angesichts der unbeabsichtigten Bedeutung hinter ihrer Frage zu verbergen. »Nein. Ich hatte dich gewarnt.«
    »Ich hatte erwartet, dass du das sagen würdest. Nur nicht in so einem bedauernden Ton.«
    »Du hast erwartet, dass ich wütend sein würde?« Sie nickte.
    »Ich war wütend«, gestand er ein. »Aber die Wut ist verraucht.«
    »Wie? Wie hast du es erreicht, dass sie vergangen ist?« Er blickte ihr in die Augen und schüttelte einfach nur den Kopf. Dann wandte er sich beiläufig ab, richtete den Blick wieder

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