SdG 09 - Gezeiten der Nacht
irgendeine alte Nemesis?
Immerhin befand sich im Moment der Staub von mehr als viertausend von ihnen unter ihren Füßen. Eine Tatsache, die in Verblicheners krächzendem Gelächter mitschwang.
»Und dieser Staub hat Augen, Sklave. Musst du dich fürchten? Vermutlich nicht. Sie sind nicht interessiert. Nicht sonderlich. Nicht genug, um sich zu erheben und euch alle niederzumetzeln, was ihnen möglicherweise auch gar nicht gelingen würde. Aber eines muss ich dir sagen, Udinaas: Sie würden ihr Bestes geben.«
»Wenn sie Staub sind«, murmelte Udinaas, »können sie niemanden niedermetzeln.«
Es war Nacht. Er lehnte mit dem Rücken an einem schrägen Felsbrocken, auf einem Sims ein Stück oberhalb des gewaltigen Edur-Lagers. Der Imperator hatte ihn vor einiger Zeit weggeschickt. Der ungeschlachte, goldbestückte elende Dreckskerl war in übler Stimmung. Er war erschöpft davon, seinen schweren Körper durch die Gegend zu schleppen, und der Diskussionen mit Hannan Mosag ebenso überdrüssig wie der endlosen Probleme, mit denen eine zigtausend Mann starke Armee mit den Familien im Schlepptau sich auf einem Marsch herumzuschlagen hatte. Es ging eben nicht immer nur um Ruhm.
»Der Staub kann sich erheben, Udinaas. Kann Gestalt annehmen. Krieger aus Knochen und verdorrtem Fleisch, mit Steinschwertern. Wie kommen die hierher? Welcher Kriegsführer hat sie hierher geschickt? Sie antworten nicht auf unsere Fragen. Das tun sie nie. Unter ihnen gibt es keine Knochenwerfer. Sie sind genau wie wir – verloren.«
Udinaas hatte keine Lust mehr zuzuhören. Das Gespenst war schlimmer als eine Zecke, die sich tief in sein Gehirn gegraben hatte. Er hatte angefangen, an seiner Existenz zu zweifeln. Wahrscheinlich war es nur eine Ausgeburt des Wahnsinns, eine Gestalt, die sein eigener Verstand sich ausgedacht hatte. Ein Etwas, das Geheimnisse erfand und ganze Armeen von Geistern säte, um die zahllosen Stimmen zu erklären, die in seinem Schädel flüsterten. Natürlich würde es darauf bestehen, dass alles ganz anders war. Es konnte sogar sein, dass es durch sein Blickfeld huschte, auf unheimliche Weise körperlos, ein aus unerfindlichen Gründen sich bewegender Schatten, der keinen Ursprung hatte und immer irgendwo war, wo er nicht hingehörte. Doch der Sklave wusste, dass seine Augen getäuscht werden konnten – das alles gehörte zur gleichen verfälschten Wahrnehmung.
Das Gespenst verbirgt sich im Blut des Wyrm. Der Wyrm verbirgt sich im Schatten des Gespensts. Ein Spiel gegenseitiger Aufhebung. Der Imperator hat nichts gespürt. Hannan Mosag und seine K’risnan haben nichts gespürt. Federhexe, Mayen, Uruth, der Haufen gebundener Gespenster, die Jagdhunde, die Vögel und die summenden Insekten – sie alle haben nichts gespürt.
Und das war absurd.
Für Udinaas war Verblichener jedenfalls nicht real, wobei dieses Urteil von einem zweifelnden Teil seines Gehirns stammte, von jenem Knoten aus Bewusstsein, den das Gespenst die ganze Zeit aufzudröseln versuchte.
Wyrmblut. Die Schwester der Morgendämmerung, die schwertschwingende Gebieterin, die die Edur unter dem Namen Menandore kannten – sie und die hungrige Stelle zwischen ihren Schenkeln. Ansteckung und so etwas wie eine Vergewaltigung. Er glaubte, dass er jetzt die Verbindung verstehen konnte. Er war tatsächlich angesteckt, und genau wie Federhexe es vorhergesagt hatte, trieb ihn das nichtmenschliche Blut in den Wahnsinn. Es hatte keine strahlend weiße Schlampe gegeben, die seinen Samen gestohlen hatte. Fiebrige Wahnvorstellungen, Visionen von Selbsterhöhung, gefolgt von dem paranoiden Verdacht, dass ihm der versprochene Ruhm vorenthalten worden war.
So erklärte sich auch sein derzeitiger schäbiger Zustand als Sklave eines verrückten Tiste Edur. Ein Sklave, der sich unter jeder nur vorstellbaren Ferse zusammenkauerte. Der sich duckte und nutzlos war, nachdem er erst einmal all das innerliche Posieren und die Selbstrechtfertigungen verworfen hatte.
Federhexe. Er hatte sie geliebt, und er würde sie niemals bekommen, doch das war nun einmal so. Die nackte Wahrheit lag offen da, eine grimmige Enthüllung, die direkt und aufrichtig zu analysieren er sich versagte.
Wahnsinnige bauten Häuser aus festem Stein. Und dann umkreisten sie sie, um einen Weg ins Innere zu finden. Ins Innere, wo die kuschelige Vollkommenheit wartete. Menschen und Intrigen und offene Lügen unterbanden alle seine Bemühungen, und das war das Herz der Verschwörung. Von außen sah das
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