Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
den edlen Dulder spielen ließ, so dumm der Anlass auch gewesen sein mochte? Sicher, eine verliebte Frau konnte genauso hoffnungslos nach einem Kerl schmachten. Und nur allzu oft fielen die Geschlechtsgenossinnen auf einen bösen Buben herein, der ihnen den Kopf verdrehte – und später dann das Herz brach. So eine Sache jedoch hätte eine Frau einfach unter Verluste abgebucht und von vorne angefangen… Ganz anders die Jungs. Die mussten immer und unbedingt aufs Ganze gehen, ganz egal, wie kalt das Herz unter Bluse und Busen war. Herrgott, es war wirklich frustrierend, dass ein Mann wie Sean auf eine Frau wie Joan hereinfallen konnte!
Michelle riss sich am Riemen und fragte sich, warum ihr das eigentlich so nahe ging. King und sie bearbeiteten gemeinsam einen Fall, das war alles. Und außerdem war King alles andere als perfekt. Sicher, er war intelligent, gebildet, gut aussehend und humorvoll. Allerdings auch über zehn Jahre älter als sie selbst. Eine Menge unangenehmer Eigenschaften besaß er auch: Er war launisch, eigenbrötlerisch, gelegentlich sogar grob und manchmal auch herablassend. Und außerdem so verflucht ordentlich! Und für den, dachte sie, habe ich doch tatsächlich das Chaos in meinem Wagen beseitigt – bloß um ihm zu gefallen…
Sie errötete bei diesem freimütigen Eingeständnis und konzentrierte sich schnell wieder auf die Papiere, die vor ihr lagen. Sie studierte den abgehefteten Haftbefehl gegen Bob Scott, der zur Entdeckung der Hütte und des ausgeräumten Bunkers geführt hatte. Doch dass Scott die treibende Kraft hinter der Affäre war, schien nach den Informationen, die King ihr vorhin gegeben hatte, sehr viel weniger plausibel.
Dennoch: Die Hütte gehörte Scott, und der Haftbefehl war wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz erlassen worden. Michelle musterte das Formular genauer. Um welche Art von Verstoß handelte es sich eigentlich genau? Und warum war der Haftbefehl nicht ausgeführt worden? Antworten auf diese Fragen waren aus den Unterlagen leider nicht ersichtlich.
Frustriert gab Michelle auf und wandte sich wieder Joans Aufzeichnungen zu. Sie stieß auf einen weiteren Namen, der ihr zu denken gab. Die Tatsache, dass Joan diesen Namen durchgestrichen und den Mann damit offenkundig von jedem Verdacht freigesprochen hatte, war Michelle in sich nicht schlüssig genug. Denn obwohl sie es wahrscheinlich niemandem gesagt hätte, war ihr Selbstvertrauen in die eigenen detektivischen Fähigkeiten genauso groß wie Kings in die seinen.
Langsam sprach sie den Namen aus und zog dabei die beiden Silben des Familiennamens in die Länge. »Doug Denby.« Ritters Stabschef. Joans Notizen war zu entnehmen, dass Denbys Leben nach dem Mord an Ritter eine Wendung zum Besseren genommen hatte, denn er hatte in Mississippi Land und Geld geerbt. Diese Tatsache allein hatte Joan zu dem Schluss kommen lassen, Denby könne der Bösewicht nicht sein. Michelle jedoch traute dem Braten nicht. Genügten wirklich ein paar Anrufe und der generelle Hintergrundbericht, den Joans Leute zusammengetragen hatten? Joan war nicht nach Mississippi gefahren, um sich persönlich zu überzeugen. Sie hatte Doug Denby nie gesehen. Lebte er wirklich in Mississippi und spielte dort den Granden? Oder trieb er sich hier in der Gegend herum und wartete nur auf sein nächstes Opfer? King hatte berichtet, dass Sidney Morse Denby damals im Wahlkampf für Ritter mehr und mehr ins Abseits gedrängt hatte. Denby hatte Morse zunehmend gehasst. Vielleicht hatte Denby Ritter ebenso gehasst. Besaß er vielleicht Verbindungen zu Arnold Ramsey, und wenn, welche? Oder zu Kate Ramsey? Hatte er seinen Reichtum zur Finanzierung eines Rachefeldzugs benutzt? All diese Fragen blieben auch nach Joans Ermittlungen unbeantwortet.
Michelle nahm einen Stift zur Hand und schrieb Denbys Namen unter den von Joan ausgestrichenen. Sie überlegte, ob sie King anrufen und fragen sollte, woran er sich sonst noch, was Denby betraf, erinnerte. Vielleicht, dachte sie, sollte ich sogar mitsamt diesen Aufzeichnungen zu ihm fahren und ihn zwingen, sich mit mir hinzusetzen und alles genau durchzugehen…
Michelle seufzte. Vielleicht will ich einfach nur bei ihm sein, dachte sie, schenkte sich noch eine Tasse Tee ein und sah aus dem Fenster. Draußen zogen Wolken auf, und es sah nach Regen aus.
Ihr Handy klingelte.
Parks rief an, um zu berichten. »Ich bin noch in Tennessee«, erklärte er. Er klang nicht eben frohgemut.
»Gibt’s was Neues?«
»Wir haben
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