Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
dahinrasender Komet, der trotz seiner Höllengeschwindigkeit noch eine Milliarde Lichtjahre Wegstrecke vor sich hat.
Gekreisch klang aus der Menge, doch gleich darauf schien es sich in ein nicht enden wollendes, seelenloses Stöhnen aufzulösen. Gesichter dehnten sich zu Fratzen, wie man sie sonst nur im Karneval sieht. Dann, schlagartig und mit der Wucht einer explodierenden Granate, schien alles vor Kings Augen zu verschwimmen. Füße hasteten vorbei, Körper wanden sich, und von allen Seiten drang Geschrei auf ihn ein. Die Menschen schoben, zogen, zerrten und duckten sich mit einem einzigen Ziel: Nichts wie fort von hier! Und in Kings Kopf wiederholte sich immer wieder ein einziger Gedanke: Nie ist das Chaos größer, als wenn vor den Augen einer arglosen Menge der Tod schnell und gewaltsam zuschlägt.
Der Kandidat lag vor ihm auf dem Hartholzboden. Die Kugel war direkt durchs Herz gegangen. King riss sich vom Anblick des soeben Verstorbenen los und fixierte den Schützen, einen hoch gewachsenen, gut aussehenden Brillenträger in einer Tweedjacke. Der Smith-&-Wesson-Revolver, Kaliber 44, war noch immer auf die Stelle gerichtet, an der Ritter eben noch gestanden hatte, als warte er darauf, dem Opfer, sofern es sich wieder aufrappeln sollte, den Fangschuss zu geben. Die Sicherheitsleute versuchten, sich durch die außer Rand und Band geratene Menge zu kämpfen, kamen aber nicht durch, sodass King und der Mörder wie isoliert einander gegenüberstanden.
King richtete seine Pistole auf die Brust des Attentäters. Ohne Warnung und ohne den Killer auf seine ihm von der amerikanischen Verfassung eingeräumten Rechte hinzuweisen, drückte er ab, wie es ihm die Pflicht gebot – einmal, und gleich danach ein zweites Mal, obwohl der erste Schuss schon gereicht hätte. Der Mann brach an Ort und Stelle zusammen und sagte kein einziges Wort; es war, als habe er damit gerechnet, für seine Tat sterben zu müssen, und diese Bedingung stoisch akzeptiert, wie es sich für einen guten Märtyrer gehört. Und alle Märtyrer lassen Menschen wie King zurück, die fortan mit dem Vorwurf leben müssen, dass sie die Tat zugelassen haben. Im Grunde waren an jenem Tag drei Menschen gestorben – und einer von ihnen war King.
Sean Ignatius King, geboren am 1. August 1960, starb am 26. September 1996 in einem Ort, von dem er bis zu diesem letzten Tag seines Lebens nicht einmal den Namen kannte. Und doch erging es ihm viel schlimmer als den anderen Gefallenen: Sie wurden sorgfältig in ihre Särge gebettet und fortan von ihren Lieben betrauert – oder zumindest von jenen, die das liebten, wofür die Toten gestanden hatten. Dem baldigen Ex-Agenten King war solches Glück nicht beschieden: Seine denkwürdige Bürde blieb auch nach seinem Tod noch quicklebendig.
KAPITEL 1 Acht Jahre später
Die Wagenkolonne bog auf den von Bäumen beschatteten Parkplatz ein, hielt an und spuckte zahlreiche Menschen aus, denen sichtlich zu heiß war und die alle müde und entsprechend schlecht gelaunt wirkten. Die kleine Armee marschierte auf den hässlichen, weiß verputzten Backsteinbau zu. Das Gebäude hatte zu verschiedenen Zeiten schon den verschiedensten Zwecken gedient. Derzeit beherbergte es ein verlottertes Bestattungsunternehmen, das nur deshalb noch florierte, weil es in einem Umkreis von fast fünfzig Kilometern das einzige war und die Toten natürlich irgendwo hin mussten. Dem Anlass entsprechend ernst dreinblickende Herren in schwarzen Anzügen standen neben den aufgebahrten, ebenso schwarzen Särgen. Ab und zu traten Trauernde aus der Tür und schluchzten still in vorgehaltene Taschentücher. Ein alter Mann in einem zerlumpten Anzug, der ihm viel zu groß war, und mit einem schmierigen, ramponierten Stetson saß vor dem Eingang auf einer Bank und schnitzte. Es war genau der richtige Ort für eine solche Szenerie: Ein Inbild ländlicher Provinzialität, wo es nichts als Stock-Car-Rennen und das ewige Geleier von Country-Balladen gab.
Als der Tross, in dessen Mitte feierlich ein großer, gut aussehender Mann schritt, an ihm vorbeikam, blickte der Alte neugierig auf, schüttelte den Kopf und grinste, wobei er die wenigen nikotinfleckigen Zähne zeigte, die ihm noch verblieben waren. Dann zog er einen Flakon aus seiner Tasche, nahm einen erfrischenden Schluck und wandte sich wieder seiner Schnitzkunst zu.
Im Gleichschritt folgte dem hoch gewachsenen Mann eine Frau Anfang dreißig. Früher hatte das Gürtelholster mit der schweren Pistole
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