Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
entschloss, als unabhängiger Kandidat in den Präsidentschaftswahlkampf zu ziehen. Das ehrgeizige Vorhaben endete dann allerdings mit einer Kugel in seinem Herzen.
Neben Ritter stand sein Wahlkampfmanager, dessen Akte sich Michelle ebenfalls angesehen hatte. Sidney Morse war der Sohn eines prominenten Rechtsanwalts aus Kalifornien, der die Erbin eines großen Vermögens geheiratet hatte. Der Junge war etwas aus der Art geschlagen, betätigte er sich doch als Stückeschreiber und Theaterregisseur, bevor er seine beachtlichen künstlerischen Talente auf der politischen Bühne auszutoben begann. Er erwarb sich landesweit Ansehen als Manager regelrechter Wahlschlachten, die er als Medienspektakel inszenierte: viel optisches und akustisches Brimborium und keinerlei inhaltliche Substanz. Aber seine Erfolgsrate war erstaunlich hoch, was, wie Michelle meinte, wahrscheinlich mehr über die Einfalt der Wähler als über die Qualitäten der Kandidaten aussagte.
Morse war zu einer Art politischem Feuerwehrmann avanciert, den man bei Bedarf mieten konnte. Für welche politische Richtung er sich engagierte, war ihm egal, solange das Geld und das Umfeld stimmten. Ritters Kampagne schloss er sich erst an, als diese längst in Fahrt gekommen war und einen ausgebufften Steuermann benötigte. Morse galt als brillant, durchtrieben und, wenn erforderlich, rücksichtslos. Alle Lager stimmten darin überein, dass er Ritters Wahlkampf nahezu perfektionierte. Und ganz offensichtlich bereitete es ihm ein geradezu diebisches Vergnügen, das politische Establishment mit dem Schreckgespenst eines dritten, von den beiden großen Parteien unabhängigen Kandidaten in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Nach der Ermordung Ritters galt Morse dann allerdings politisch als Ausgestoßener, und es ging rapide mit ihm bergab, auch geistig und seelisch. Vor einem Jahr war er in eine staatliche Heilanstalt für psychisch Kranke eingewiesen worden, und so, wie es aussah, würde er den Rest seines Lebens dort verbringen müssen.
Michelles Muskeln spannten sich erneut an, als sie Sean King unmittelbar hinter dem Kandidaten auftauchen sah. In Gedanken zählte sie die Secret-Service-Agenten, die sich zu diesem Zeitpunkt im Raum aufhielten, und stellte mit einiger Verwunderung fest, dass es so viele gar nicht waren. Bei ihrem Einsatz für Bruno waren es dreimal so viele gewesen. King war der einzige Agent in unmittelbarer Nähe Ritters. Sie fragte sich, wer sich damals diese miserable Logistik ausgedacht hatte.
Michelle Maxwell, einst wissbegierige Studentin der Geschichte des Secret Service, wusste, dass sich dessen Aufgabengebiet erst im Laufe der Zeit herauskristallisiert und entwickelt hatte. Es hatte dreier tragischer Präsidentenmorde bedurft – an Abraham Lincoln, James Garfield und William McKinley –, bis sich der Kongress endlich substanziell mit der Frage des Präsidentenschutzes befasst und eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen hatte. Teddy Roosevelt war der erste Amtsinhaber gewesen, der sich eines umfassenden Schutzes durch den Secret Service erfreuen konnte, wenngleich die Verhältnisse damals bei weitem noch nicht so kompliziert waren wie später. Noch Ende der Vierzigerjahre wurde für Harry Truman, Franklin Roosevelts neu gewählten Vizepräsidenten, erst dann ein persönlicher Leibwächter abgestellt, nachdem einer seiner Mitarbeiter überzeugend dargelegt hatte, dass ein Mann, den nichts als ein Herzschlag vom Amt des mächtigsten Menschen der Erde trennte, durchaus Anspruch auf zumindest einen professionellen Personenschützer hatte, der mit der Pistole in der Hand auf ihn aufpasste.
Shakehands, Begrüßungen… Michelle beobachtete den Agenten King und sah, dass er sich absolut den Vorschriften entsprechend verhielt. Sein Blick war ständig in Bewegung – ein Verhalten, das der Service seinen Mitarbeitern eindrillte. Einmal hatte der Service einen Wettkampf mit anderen Sicherheitsbehörden ausgetragen. Es ging darum, welcher der Dienste am besten erkennen konnte, ob jemand lügt oder nicht. Der Secret Service hatte klar gewonnen, und Michelle wusste, warum. Ein Agent, dem eine Schutzperson anvertraut war, verbrachte den größten Teil seiner Zeit damit, sich allein von der äußeren Erscheinung eines Menschen her in dessen innerste Gedanken und Motive hineinzuversetzen.
Und dann kam der entscheidende Augenblick. Irgendetwas rechts von King lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Die Frage, was dieses Etwas sein mochte, regte
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