Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
getrunken, um jetzt noch nach Hause zu fahren, mitten in der Nacht, und dann noch über diese kurvenreichen Nebenstrecken. Das Gästezimmer ist ganz oben auf der rechten Seite. Im Schrank ist ein Schlafanzug, und du hast ein eigenes Bad. Wer zuerst aufsteht, setzt Kaffee auf.«
Sie drehte sich um. »Ist das dein Ernst? Fühl dich zu nichts verpflichtet.«
»Glaub mir, das weiß ich. Zumindest sollte ich mich nicht verpflichtet fühlen. Bis morgen Früh also.«
Ihr Blick schien zu sagen: Bist du dir wirklich ganz sicher, dass du mich nicht doch noch vor Tagesanbruch besuchen wirst? King wandte sich ab und ging.
»Wo willst du denn hin?«, fragte sie.
»Ich hab noch was zu tun. Gute Nacht.«
Joan ging hinaus und holte ihre Reisetasche aus dem Auto. Als sie wieder ins Haus kam, war Sean King nirgends zu sehen. Sein eigenes Schlafzimmer befand sich offenbar am Ende des Flurs. Sie huschte hinüber und warf einen Blick hinein. Das Zimmer war dunkel und leer. Langsam stieg sie hinauf ins Gästezimmer und schloss die Tür hinter sich.
KAPITEL 12
Michelle Maxwells Arme und Beine bewegten sich mit äußerster Effizienz – jedenfalls nach ihrer eigenen Einschätzung und unter Berücksichtigung der erheblich gesenkten Leistungsnormen dieser nacholympischen Zeiten. Ihr Boot durchschnitt die Wasser des Potomac. Die Sonne ging auf, und die Luft war bereits schwül; ein heißer Tag kündigte sich an. Hier in Georgetown hatte ihre Ruderkarriere begonnen. Ihre muskulösen Oberschenkel und Schultern brannten vor Anstrengung. Sie hatte alle anderen Boote weit hinter sich zurückgelassen, ob es sich nun um Kanadier, Kanus oder sonst wie vergleichbare Wasserfahrzeuge handelte, darunter auch eines mit einem Fünf-PS-Motor.
An einem der Bootshäuser, die das Ufer des Flusses säumten, zog sie das Boot an Land, bückte sich und atmete lang und tief durch. Die in ihrem Blut zirkulierenden Endorphine sorgten für ein angenehmes Hochgefühl. Eine halbe Stunde später saß sie in ihrem Land Cruiser und war unterwegs zu dem Hotel in der Nähe von Tysons Corner, Viriginia, in das sie sich zurückgezogen hatte.
Es war immer noch früh am Tage, und der Verkehr hielt sich in Grenzen – oder besser: relativ in Grenzen für ein Gebiet, in dem normalerweise ab fünf Uhr morgens alle Highways dicht sind. Im Hotel duschte sie und streifte sich T-Shirt und Boxershorts über – ein tolles Gefühl, so ohne unbequeme Schuhe, ohne Strümpfe und ohne scheuerndes Pistolenholster. Nach einigen Streck- und Dehnübungen und nachdem sie ihre müden Glieder kräftig abgerubbelt hatte, bestellte Michelle sich ein Frühstück und warf sich, bevor der Zimmerservice an ihre Tür klopfte, noch schnell einen Morgenmantel über. Bei Pfannkuchen, Orangensaft und Kaffee zappte sie sich durch die Vormittagsprogramme der Fernsehsender, um zu erfahren, was es Neues im Entführungsfall Bruno gab. Welch eine Ironie! Sie war an jenem Tag Einsatzleiterin gewesen und musste sich nun via CNN über den Fortgang der Ermittlungen informieren. Als plötzlich auf der Mattscheibe ein Mann auftauchte, der ihr bekannt vorkam, hörte sie auf zu zappen. Die Szene spielte in Wrightsburg, Virginia. Zahllose Reporter und Kameraleute standen um den Mann herum, der alles andere als glücklich darüber wirkte.
Michelle brauchte eine Weile, bis sie ihn einordnen konnte: Ach ja, dachte sie, Sean King! Sie selbst war ungefähr ein Jahr vor dem Attentat auf Clyde Ritter zum Secret Service gekommen. Was danach aus Sean King geworden war, wusste sie nicht, und es hatte für sie auch nie eine Veranlassung gegeben, es in Erfahrung zu bringen. Doch als sie jetzt Näheres über den Mordfall Jennings hörte, erwachte ihre Neugier. Ein Grund dafür war rein physischer Natur: King war ein sehr gut aussehender Mann. Hoch gewachsen, gut gebaut, mit dichtem, kurz geschnittenem schwarzem Haar, das an den Schläfen schon deutlich ergraute. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte ein Gesicht, das erst mit Falten richtig gut aussieht; sie verliehen ihm eine Attraktivität, wie er sie in den Zwanzigern oder Dreißigern vermutlich nie besessen hatte, weil er damals zu sehr dem Klischee des hübschen Knaben entsprach. Mehr noch als Kings angenehmes Äußeres jedoch fesselte Michelle der Fall Jennings, über den sie jetzt die ersten, noch sehr unvollständigen Einzelheiten erfuhr. Irgendetwas war an diesem Mord seltsam, irgendetwas, das sie im Augenblick noch nicht benennen konnte.
Sie schlug die
Weitere Kostenlose Bücher