Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Leichenhalle, aus der Bruno verschwunden war, wandte sich Michelle an einen der Männer, die den Raum vor Brunos Eintritt überprüft hatten. »Wie, zum Teufel, konnte das passieren?«, fuhr sie ihn an.
Der Angesprochene war ein Secret-Service-Veteran und ein guter Mann obendrein. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Der Raum war sauber, Mick«, sagte er. »Echt sauber.«
Bei der Arbeit kam es immer wieder vor, dass Michelle »Mick« genannt wurde. Sie hatte nichts dagegen: Irgendwie war sie auf diese Weise den Jungs näher, ihnen ähnlicher, und das war – wie sie sich zähneknirschend eingestand – gar nicht so übel.
»Haben Sie die Witwe überprüft? Sie befragt?«
Der Mann sah sie skeptisch an. »Sollten wir etwa eine alte Frau in die Mangel nehmen, deren Ehemann zwei Meter weiter im Sarg liegt? Wir haben ihre Handtasche angesehen, ja, aber eine intime Leibesvisitation war nun wirklich nicht angebracht.« Er atmete tief durch. »Wir hatten exakt zwei Minuten Zeit. Jetzt nennen Sie mir mal irgendwen, der so einen Job in zwei Minuten perfekt erledigen kann.«
Michelle versteifte sich, als ihr die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. Alle Beteiligten würden versuchen, die eigene Haut und den Pensionsanspruch zu retten. Im Nachhinein sah es verdammt schwach aus, dass sie nur zwei Minuten für die Sicherheitsüberprüfung genehmigt hatte. Michelles Blick fiel auf den Türknopf, mit dem die Tür von innen verriegelt worden war.
Zwei Meter weiter im…? Sie sah sich nach dem kupferfarbenen Sarg um und ließ den Bestattungsunternehmer rufen, der kurz darauf zu ihr kam. Er war jetzt noch viel blasser, als bei Leuten seiner Zunft gemeinhin üblich. Michelle fragte ihn, ob es sich bei dem Toten tatsächlich um Bill Martin handele. Ja, sagte der Mann.
»Und Sie sind sich ganz sicher, dass die Frau an seinem Sarg seine Witwe war?«
»Was für eine Frau?«, wollte er wissen.
»Eine Frau in Schwarz saß hier im Raum. Sie war verschleiert.«
»Ich weiß nicht, ob diese Frau Mrs Martin war oder jemand anders. Ich habe sie nicht hereinkommen sehen.«
»Ich brauche Mrs Martins Telefonnummer. Außerdem dürfen weder Sie noch Ihre Angestellten das Gebäude verlassen, bis das FBI eingetroffen ist und seine Ermittlungen abgeschlossen hat.«
Der Mann wurde noch blasser im Gesicht – sofern das überhaupt möglich war. »Das FBI?«
Michelle ließ ihn gehen, und ihr Blick fiel auf den Sarg und den Fußboden davor. Sie bückte sich, um ein paar Rosenblütenblätter aufzuheben, die heruntergefallen waren. Dabei geriet ihr Kopf auf Augenhöhe mit dem Sockel, auf dem der Sarg ruhte. Michelle beugte sich über die Blumen und zog vorsichtig den vorhangartigen Stoff beiseite, der den Sockel verdeckte. Eine Vertäfelung kam zum Vorschein. Michelle klopfte dagegen. Es klang hohl. Nachdem sie sich Handschuhe übergestreift hatte, hob sie mit einem Kollegen eines der Holzpaneele ab und legte einen Hohlraum frei, in dem sich problemlos ein ausgewachsener Mann verstecken konnte. Michelle schüttelte den Kopf über sich selbst. Das hatte sie gründlich versiebt.
Einer ihrer Leute trat zu ihr und zeigte ihr ein technisches Gerät in einem durchsichtigen Plastikbeutel. »Eine Art digitales Tonbandgerät«, sagte er.
»Brunos Stimme! Damit haben sie uns also geleimt!«
»Sie müssen eine Rede von ihm oder so etwas mitgeschnitten haben. Den Ausruf ›Augenblick noch!‹ hielten sie dann offenbar für am besten geeignet, uns noch eine Weile zu vertrösten, weil er auf alle möglichen Fragen Antwort gibt. Sie haben ihn mit Ihrer Bemerkung über Brunos Kinder ausgelöst. Irgendwo muss noch eine Wanze versteckt sein…«
»… weil das Gerät ja sonst auf meinen Ruf hin nicht angesprungen wäre«, ergänzte Michelle.
»Genau.« Der Mann deutete auf die gegenüberliegende Wand, wo gerade ein Teil der gepolsterten Verkleidung entfernt worden war. »Da hinten ist eine Tür, die zu einem geheimen Durchgang führt.«
»Dann sind sie also dort hinaus.« Michelle gab dem Agenten den Plastikbeutel zurück. »Stellen Sie das Gerät wieder genau dort hin, wo Sie es gefunden haben. Ich habe keine Lust, mich vom FBI darüber aufklären zu lassen, dass man an einem Tatort nichts verändern darf.«
»Es muss doch einen Kampf gegeben haben«, sagte der Agent. »Wie ist es möglich, dass wir keinen Ton gehört haben?«
»Na wie schon, bei dieser Totenmusik, die hier überall plärrt?«, gab Michelle scharf zurück.
Sie betraten den verborgenen
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