Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Wesentlichen diese Einstellung, die dem Kandidaten Bruno jede Siegeschance nahm. Amerika liebte seine starken Kerle, war aber nicht bereit, sich jemanden an die Spitze zu wählen, der keinerlei Mitleid mit den Mühseligen und Beladenen an den Tag legte – schließlich war es durchaus möglich, dass diese eines Tages die Mehrheit bildeten.
Die Schwierigkeiten begannen, als Bruno mit seinem Stabschef, zwei Assistenten, Michelle und dreien ihrer Sicherheitskräfte im Schlepptau die Leichenhalle betrat. Die Witwe, die vor dem Sarg ihres Ehemanns saß, blickte abrupt auf. Da sie verschleiert war, konnte Michelle ihre Miene nicht erkennen, ging jedoch davon aus, dass sie die Horde von Eindringlingen in die heiligen Hallen mit Überraschung quittierte. Die alte Dame erhob sich und zog sich, sichtbar zitternd, in eine Ecke zurück.
Unvermittelt drehte sich der Kandidat zu Michelle um und fauchte sie an: »Er war ein guter Freund von mir, und ich habe nicht vor, hier eine Truppenparade zu veranstalten. Raus mit Ihnen! Verschwinden Sie!«
»Ich bleibe«, fauchte Michelle zurück. »Nur ich.«
Bruno schüttelte den Kopf. Es kam immer wieder zu solchen Konfrontationen zwischen ihnen. Er wusste, dass seine Kandidatur ein hoffnungsloses Unterfangen war – und hängte sich gerade deshalb umso mehr ins Zeug. Seine Kampagne war ein brutaler Parforceritt – und die Logistik seiner Bewachung ein Albtraum.
»Nein, das ist eine Privatsache!«, blaffte er und warf einen Blick auf die zitternde alte Frau in der Ecke. »Mein Gott, Sie erschrecken sie ja zu Tode. Das ist einfach widerlich.«
Michelle versuchte es noch einmal, aber Bruno ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Unter Verwünschungen drängte er sie alle wieder aus dem Raum. Was sollte ihm in einer Leichenhalle schon passieren? Sollte ihn etwa die achtzigjährige Witwe des Verstorbenen plötzlich anspringen? Oder der Tote wieder lebendig werden? Michelle spürte, dass ihr Schützling ernsthaft zornig war, weil sie ihn wertvolle Wahlkampfminuten kostete. Aber die Idee, hierher zu kommen, war schließlich nicht auf ihrem Mist gewachsen – nur interessierte Bruno dieses Argument in seiner gegenwärtigen Stimmung überhaupt nicht.
Keinerlei Erfolgschancen – und doch bildete sich dieser Mann weiß Gott was ein. Am Wahltag würden ihm die Wähler, einschließlich Michelle, einen Denkzettel erteilen, der einem Tritt in den Hintern gleichkam.
Sie machte einen Kompromissvorschlag: zwei Minuten für ihr Team zur Durchsuchung des Raumes. Bruno stimmte zu, und ihre Männer schwärmten sofort aus. Insgeheim kochte Michelle vor Wut, sagte sich aber, es sei besser, noch ein paar Pfeile im Köcher zu behalten für die wirklich bedeutsamen Schlachten, die noch auf sie zukamen.
Hundertzwanzig Sekunden später kamen ihre Leute wieder heraus und berichteten, dass alles in Ordnung sei. Der Raum hatte nur eine Tür, durch den man ihn betreten und verlassen konnte. Keine Fenster. Außer der alten Dame und dem Toten sei niemand anwesend. Die Raumtemperatur sei kühl. Das war nicht perfekt, ging aber in Ordnung. Michelle nickte dem Kandidaten zu. Bruno sollte sein Tête-à-tête mit dem Verstorbenen haben, und danach konnte die Karawane weiterziehen.
Bruno betrat die Leichenhalle, schloss die Tür hinter sich und ging auf den offenen Sarg zu. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein zweiter, allerdings leerer Sarg. Von einem hüfthohen Berg wunderschöner Blumen umgeben, ruhte der Sarg mit dem Verstorbenen auf einer Art Sockel, der mit einem vorhangartigen weißen Stoff verkleidet war. Bruno erwies dem Toten seine Reverenz, murmelte »Mach’s gut, Bill!«, und wandte sich dann der Witwe zu, die inzwischen wieder auf ihren Stuhl zurückgekehrt war. Er ging vor ihr in die Knie, und sie reichte ihm die rechte Hand. Bruno drückte sie sanft.
»Es tut mir Leid, Mildred, wirklich sehr Leid. Er war ein guter Mann.«
Die Trauernde sah ihn unter ihrem Schleier hervor an, lächelte und schlug den Blick wieder nieder. Brunos Gesichtsausdruck veränderte sich. Er sah sich vorsichtig um, obwohl die einzige andere Person im Raum nicht mehr in einem Zustand war, der es ihr ermöglicht hätte, zu lauschen. »Du erwähntest noch etwas anderes, worüber du mit mir unter vier Augen sprechen wolltest«, sagte Bruno.
»Ja«, bestätigte die Witwe mit leiser Stimme.
»Ich fürchte, ich habe nicht viel Zeit, Mildred. Worum geht es denn?«
Wie zur Antwort legte sie die linke Hand auf seine
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