Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Reporter und Fotografen. Obwohl John Bruno bewusst gewesen war, dass sich ein paar Fotos von ihm am Sarg des Verstorbenen gut gemacht hätten, und trotz entsprechender Interventionen von Seiten Fred Dickers’ hatte er Rückgrat bewiesen und der Presse den Zugang zur Leichenhalle untersagt. Jetzt brach die Meute los, mit der vollen Wucht ihrer journalistischen Leidenschaft: Hatte sie sich zuvor murrend gefügt, witterte sie nun eine Story von weitaus größerer Brisanz, als sie der Beileidsbesuch eines Präsidentschaftskandidaten am Sarg eines alten Freundes je hätte bieten können.
Ehe die Reporter Michelle erreichten, packte diese einen Uniformierten am Arm, der auf sie zugelaufen war und offenbar auf Instruktionen wartete. »Sind Sie ein Kollege aus dem Ort?«, fragte sie ihn.
Er nickte. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht bleich. Der Mann sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen oder sich zumindest in die Hosen machen.
Michelle deutete auf die Straße. »Wessen Trauerzug ist das?«
»Harvey Killebrews. Sie bringen ihn zum Friedhof.«
»Halten Sie den Zug auf!«
Der Mann stierte sie dusselig an. »Aufhalten? Ich?«
»Jemand ist entführt worden. Und das da…« Wieder deutete Michelle in die Richtung, in der der Trauerzug verschwunden war. »Das da wäre eine optimale Gelegenheit, den Entführten aus dem Weg zu schaffen – meinen Sie nicht?«
»Ach ja«, erwiderte der Mann langsam. »Das könnte wohl sein.«
»Also sorgen Sie dafür, dass jedes einzelne Fahrzeug gründlich durchsucht wird, vor allem der Leichenwagen.«
»Der Leichenwagen? Aber entschuldigen Sie, Ma’am, da ist doch Harvey drin!«
Michelle musterte seine Uniform. Er war nur ein Hilfspolizist, aber sie konnte es sich jetzt nicht leisten, wählerisch zu sein. Nach einem Blick auf das Namensschildchen an seiner Brust sagte sie sehr ruhig: »Officer Simmons, wie lange sind Sie schon im… äh… im Wach- und Schließgewerbe tätig?«
»Ungefähr einen Monat, Ma’am. Aber ich bin berechtigt, Waffen zu tragen. Bin Jäger, schon seit meinem achten Lebensjahr. Schieß Ihnen die Flügel von ’ner Mücke weg, wenn’s drauf ankommt.«
»Sehr gut.« Einen Monat! So, wie der Bursche aussah, glaubte sie ihm noch nicht einmal das. »Okay, Simmons, hören Sie zu: Ich halte es für gut möglich, dass der Entführte bewusstlos ist – und für den Transport eines Bewusstlosen wäre ein Leichenwagen doch genau das Richtige, meinen Sie nicht auch?« Er nickte, anscheinend begriff er endlich, worauf sie hinauswollte. Ihr Mund verzog sich, und ihre Stimme klang nun knallhart wie ein Pistolenschuss. »Und jetzt ab mit Ihnen! Sie stoppen umgehend diesen Leichenzug und durchsuchen die Fahrzeuge!«
Simmons rannte sofort los. Michelle befahl einigen ihrer Leute, ihm bei dem Einsatz zu helfen und dafür zu sorgen, dass alles glatt ging. Eine andere Gruppe schickte sie in die Leichenhalle, die gründlich durchsucht werden sollte. Es war nicht ganz auszuschließen, dass Bruno irgendwo im Gebäude versteckt worden war.
Sie kämpfte sich durch die Reporter- und Fotografenmeute und bestimmte das Bestattungsinstitut zu ihrer Einsatzzentrale. Dann telefonierte sie wieder, studierte Landkarten der Umgebung und koordinierte die Fahndung. Sie legte einen inneren Ring um den Tatort mit einem Radius von einer Meile um das Bestattungsinstitut herum fest. Und dann kam der Anruf, den sie gerne vermieden hätte, der sich aber nicht länger hinausschieben ließ: Sie wählte die Nummer ihrer Vorgesetzten und sprach die Worte aus, die von nun an untrennbar mit ihrem Namen und ihrer gescheiterten Karriere beim Secret Service verbunden bleiben sollten.
»Hier spricht Agentin Michelle Maxwell, Einsatzleiterin Personenschutz John Bruno. Wir haben – ich habe – unsere Schutzperson verloren… ja, verloren . John Bruno ist offenbar entführt worden. Die Fahndung läuft, die örtlichen Polizeibehörden und das FBI sind informiert.« Sie hatte das Gefühl, das Fallbeil sause bereits auf ihren Nacken zu.
Michelle schloss sich dem Trupp an, der auf der Suche nach Bruno das Bestattungsinstitut vom Keller bis zum Dachgeschoss durchkämmte und dabei das Interieur buchstäblich in seine Einzelteile zerlegte. Ein solches Vorgehen am Tatort vor Eintreffen der Spurensicherung war, milde ausgedrückt, problematisch. Aber sie konnten sich jetzt nicht über die bevorstehenden Ermittlungen den Kopf zerbrechen; sie mussten den vermissten Kandidaten suchen.
In der
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