Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
fallen die Leute tot um. Ich würde auch vor mir davonlaufen.«
»Ich laufe vor niemandem davon. Tatsache ist, dass ich deine Hilfe jetzt noch viel dringender benötige als vorher.«
»Ach, wie schön das ist, gebraucht zu werden!«
»Ich bleibe noch ein paar Tage hier in der Gegend, vereinbare Befragungstermine und betreibe ein paar Hintergrundrecherchen. Ruf mich an, und zwar möglichst bald. Wenn du nicht mit mir zusammenarbeiten willst, muss ich weiter. Mir steht ein Privatflugzeug zur Verfügung. Ich möchte dir helfen, diese Geschichte durchzustehen, und ich glaube, Arbeit ist das beste Mittel dazu.«
»Warum, Joan? Warum willst du mir helfen?«
»Nenn es meinetwegen Rückzahlung einer längst überfälligen Schuld.«
»Du schuldest mir gar nichts.«
»Ich schulde dir mehr, als du denkst. Das ist mir jetzt erst so richtig klar geworden.«
Sie gab ihm ein Küsschen auf die Wange, drehte sich um und ging.
Wieder klingelte das Telefon, und King riss den Hörer ans Ohr. »Jaaa?«, sagte er gereizt.
Diesmal war es Michelle. »Ich weiß Bescheid. In einer halben Stunde bin ich bei dir.« Er sagte nichts. »Wie geht es dir, Sean, bist du okay?«
Er trat zum Fenster und sah, wie Joan davonfuhr. »Mir geht’s gut, danke.«
King duschte im Gästebad und zog sich dann an den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer zurück. Mit gerunzelter Stirn konzentrierte er sich auf den Text jener Nachricht, die an Ms Whiteheads Leiche befestigt gewesen war, und schrieb sie aus dem Gedächtnis nieder.
Déjà vu, Sir Kingman. Versuchen Sie, wenn Sie können, sich daran zu erinnern, wo Sie am wichtigsten Tag Ihres Lebens waren. Ich weiß, Sie sind ein kluges Köpfchen, aber auch schon ein bisschen eingerostet, deshalb werden Sie wohl einen kleinen Tipp brauchen. Hier ist er: Punkt 10.32 Uhr vormittags 26091996. Wache schieben, Füße verteilen – schon mal gehört? Freue mich auf ein baldiges Treffen.
Punkt 10.32 Uhr am 26. September 1996 war Clyde Ritter ermordet worden. Was konnte diese Nachricht bedeuten? King dachte so angestrengt darüber nach, dass er gar nicht hörte, wie Michelle den Raum betrat.
»Sean, alles in Ordnung?«
Er sprang auf und stieß einen Schrei aus. Michelle kreischte auf und zuckte zurück.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt«, sagte sie.
»Erschreckt – dich? Mensch, Frau, hast du noch nie was von Anklopfen gehört?«
»Doch. Ich habe geklopft, fast fünf Minuten lang. Aber es kam keine Antwort.« Ihr Blick fiel auf das Blatt Papier auf dem Schreibtisch. »Was ist denn das?«
Er beruhigte sich. »Eine Nachricht von jemandem aus meiner Vergangenheit.«
»Wie weit zurück?«
»Sagt dir das Datum 26. 9. 1996 was?«
Und ob ihr das was sagte. Nach kurzem Zögern reichte er ihr den Zettel.
Michelle las den Text, dann blickte sie auf und fragte: »Von wem könnte das stammen?«
»Von der Person, die Susan Whiteheads Leiche hierher geschafft und in meinem Badezimmer deponiert hat. Das kam alles miteinander. Der oder die Betreffende legte offenbar großen Wert darauf, dass ich diese Nachricht auch finde.«
»Ist die Frau hier getötet worden?«
»Nein. Die Polizei glaubt, dass sie heute im Morgengrauen überfallen und ermordet wurde. Erst dann hat man sie hierher geschafft.«
Michelle musterte noch einmal die Nachricht. »Weiß die Polizei von dieser Notiz?«
Er nickte. »Die haben das Original. Ich hab mir den Text aus dem Gedächtnis zusammengestoppelt.«
»Hast du irgendwelche Vorstellungen, wer ihn geschrieben haben könnte?«
»Ja, mehrere, aber keine erscheint mir plausibel.«
»War Joan noch hier, als du die Leiche gefunden hast?«
»Ja, aber sie hat damit nichts zu tun.«
»Das weiß ich, Sean, ich wollte damit nichts andeuten. Wie bist du mit ihr verblieben?«
»Ich werde sie anrufen und ihr sagen, dass ich noch über das Bruno-Angebot nachdenke und mich dann wieder bei ihr melden werde.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Wir fahren noch einmal nach Bowlington.«
Michelle sah ihn überrascht an. »Ich dachte, du willst mit dem Fairmount-Hotel nichts mehr zu tun haben.«
»Das hat durchaus seine Richtigkeit. Aber mich interessiert, wovon ein arbeitsloses Zimmermädchen gelebt und wer ihr Geld in den Rachen gestopft hat.«
»Aber du weißt nicht, ob das mit der Ermordung Ritters zusammenhängt.«
»O doch. Aber jetzt kommt die letzte Frage, die große Preisfrage.« Michelle sah ihn erwartungsvoll an. »Und die lautet: Wen oder was hat Loretta Baldwin in dieser
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