Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
lassen, um die Wahlen zu seinen eigenen Gunsten zu beeinflussen. Soweit ich das überblicke, war Brunos Wählerschaft groß genug, um ihn zum Zünglein an der Waage zu machen – je nachdem, welchen der beiden anderen Kandidaten er im Falle eines Falles unterstützt hätte.«
»Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass eine der beiden großen Parteien hinter der Entführung steckt. So was kommt vielleicht in irgendwelchen Bananenrepubliken vor, aber doch nicht bei uns.«
»Einverstanden, diese These ist ziemlich weit hergeholt.«
King nippte an seinem Tee und sagte: »Dann wenden wir uns lieber wieder den üblichen Beweggründen von Übeltätern zu, ja?«
»Man hat ihn entführt, um Geld zu erpressen. Dann müsste über kurz oder lang eine Lösegeldforderung eintreffen.«
»Oder er ist von einer kriminellen Gang gekidnappt worden, der er in seiner Zeit als Staatsanwalt das Wasser abgegraben hat.«
»In diesem Fall werden wir wahrscheinlich seine Leiche niemals finden.«
»Gibt es konkrete Verdachtsmomente in dieser Richtung?«
Joan schüttelte den Kopf. »Hatte ich auch erst vermutet, aber nein, da ist nichts. Von den drei schlimmsten Gangs, die mit Brunos Hilfe zerschlagen wurden, läuft zurzeit kein Mitglied frei herum. Er hat dann später in Philadelphia – also nach seiner Zeit in Washington – auch noch ein paar lokale Banden aufs Korn genommen, aber die sind kaum über ihre Stadtviertel hinausgekommen und haben von Logistik und Infrastruktur her auch außer Pistolen, Messern und Handys kaum etwas zu bieten. Denen fehlen sowohl der Grips als auch die Mittel, einen Präsidentschaftskandidaten quasi unter den Augen des Secret Service zu entführen.«
»Gut, dann schließen wir also Feinde aus seiner Staatsanwaltszeit genauso aus wie politische Gegner. Bleibt das rein finanzielle Motiv. Ist Bruno so viel wert, dass sich das Risiko lohnt?«
»Er allein nicht. Aber wie ich schon sagte: Die Familie seiner Frau hat Geld. Sie sind keine Rockefellers, aber immerhin. Eine Million Dollar Lösegeld könnten sie wohl aufbringen, mehr allerdings nicht.«
»Na ja, das klingt nach sehr viel Geld, aber so weit wie früher kommst du mit einer Million heute auch nicht mehr.«
»Ach, wie gerne ich das selber ausprobieren würde!«, seufzte Joan und warf dann wieder einen Blick in ihre Akte. »Brunos Partei ist auch nicht unvermögend – trotzdem gäbe es viele Ziele, die noch erheblich lukrativer wären…«
»… und außerdem nicht vom Secret Service bewacht werden«, ergänzte King.
»Genau. Mir kommt’s fast so vor, als hätten die Täter einfach nur die…«
»… Herausforderung gesucht? Einfach um dem Secret Service eins auszuwischen?«
»Ja.«
»Dann müssten sie aber Insiderkenntnisse haben. Irgendeinen Mitarbeiter Brunos.«
»Ich habe da gewisse Möglichkeiten, an solche Informationen heranzukommen. Auf jeden Fall werden wir das überprüfen müssen.«
»Sehr schön. Aber als Nächstes gehe ich erst einmal unter die Dusche.«
»Die Vergangenheit zu erforschen ist offenbar ein dreckiges Geschäft«, kommentierte Joan trocken.
»Da könntest du Recht haben«, erwiderte King und stieg die Treppe hoch.
»Willst du mich wirklich hier allein und unbeaufsichtigt lassen?«, rief sie ihm nach. »Ich könnte ja eine Atombombe in deinem Sockenfach verstecken, und dann wäre hier die Hölle los.«
King ging in sein Schlafzimmer. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Er ging hinein, machte Licht, drehte die Dusche an und trat ans Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen. Als ihm einfiel, dass Joan vielleicht auf dumme Gedanken kommen könnte, gab er der Tür einen Stoß – und spürte im selben Augenblick, dass sie viel schwerer war als erwartet. Es war, als habe man sie mit einem Gewicht beschwert.
King erschrak und war sofort alarmiert. Vorsichtig zog er die Tür ein Stück zu sich heran und spähte um die Ecke. In diesem Moment führte das erhöhte Gewicht dazu, dass sich die Tür selbstständig machte, vollends herumschwang und krachend ins Schloss fiel. King hörte es nicht. Seine Aufmerksamkeit galt allein der Ursache für die zusätzliche Belastung.
Sean King hatte in seinem Leben schon viele Dinge gesehen, die einem den Schlaf rauben konnten. Doch der Anblick der in ganz Wrightsburg bekannten Gesellschaftsdame Susan Whitehead, seiner ehemaligen Klientin, die mit einem großen Messer in der Brust an seiner Badezimmertür hing und ihn aus toten Augen anstarrte, hätte ihm um ein Haar den Boden
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