Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
hatten die Yankees zweimal so viele Tote und Verwundete.«
Während Michelle ihm Gewehr, Feldflasche und Decke trug, schaute sie sich das Treiben ringsum aufmerksam an. »Es sieht so aus, als würde hier ein Monumentalfilm gedreht.«
»Ja, aber leider folgt kein Zahltag.«
»Ich glaube, das sind alles kleine Jungs, die nie erwachsen geworden sind«, meinte Bailey, grinste und schüttelte den Kopf. »Nur ist das Spielzeug jetzt größer und teurer.«
»Ist Dorothea auch da?«, fragte Michelle.
Eddie hob die Schultern. »Meine liebe Frau ließe sich lieber die Zehennägel einzeln ausreißen, als sich anzusehen, wie ich Soldat spiele.« Jemand blies in ein Signalhorn. »Aha, das Heerlager ist eröffnet. Angefangen wird mit Referaten über die Schlacht, kurzem Infanterie-Exerzieren, Blasmusik und einer Kavallerie-Darbietung.«
»Sie sind auch beritten, haben Sie erwähnt. Wo ist denn Ihr Pferd?«
Eddie wies auf einen etwa eins dreißig hohen, behände wirkenden Tennessee-Traber, der neben seinem Fahrzeug an einen Pferdetransport-Anhänger gebunden stand. »Das ist Jonas. Sally hat ihn gut gepflegt, aber heute muss er mal zeigen, was er kann.«
Gemeinsam strebten sie ins Heerlager. Voller Bewunderung schaute Michelle zu, als Eddie am Infanterie-Exerzieren teilnahm und anschließend bei der Kavallerie-Aufführung mit Jonas einige ziemlich verwickelte Manöver bewältigte. Dann bat man die Zuschauer, vor Beginn des Artillerie-Duells das Heerlager zu verlassen. Bei der ersten Salve drückte Michelle die Hände auf die Ohren.
Damit war der erste Tag der Schlacht eingeleitet.
Eddie zeigte Michelle und Bailey eine Stelle, von wo aus sie ihn »glorreich fallen sehen« könnten. Außerdem erklärte er ihnen den Weg zu den Verpflegungszelten. »Da kriegt man heiße Würstchen und kaltes Budweiser. So was Feines hat kein Bürgerkriegssoldat je zu sehen bekommen.«
»Ich habe gehört, es werden tatsächlich Filmaufnahmen gemacht«, sagte Bailey.
»Stimmt, für die Nachwelt«, bestätigte Eddie ein wenig sarkastisch. »Es wird vieles aufgezeichnet.«
»Ich gehe davon aus«, sagte Michelle, »dass sämtliche Knarren und Kanonen keine scharfe Munition verschießen.«
»Mein Gewehr auf jeden Fall nicht. Ich will verdammt hoffen, dass alle anderen Beteiligten sich ebenfalls an diese Regel halten.« Eddie lächelte. »Keine Bange, wir sind ausnahmslos Profis. Es schwirren bestimmt keine Musketenkugeln durch die Gegend.« Er rückte sein Gepäck zurecht, brachte es ins Gleichgewicht. »Manchmal begreife ich nicht, wie die Kerle damals mit diesem ganzen Krempel laufen, geschweige denn kämpfen konnten. Wir sehen uns später. Wünschen Sie mir Glück.«
»Viel Glück«, sagte Michelle, als er sich umdrehte und davoneilte.
KAPITEL 53
Als Kyle Montgomery die Wohnung verließ, fand er die Nachricht unter einen Scheibenwischer des Jeeps geklemmt vor. Er riss den Umschlag auf, las den Inhalt und lächelte breit. Der Brief stammte von seiner Pillenkundin, der verrückten Exhibitionistin mit der Vorliebe für schallgedämpfte Knarren. Sie wollte sich zu sehr später Abendstunde in einem örtlichen Hotel mit ihm treffen. Sie bat ihn um Entschuldigung für ihr Verhalten und schlug ihm Wiedergutmachung vor. Außer fünftausend Dollar bot sie ihm die sexuelle Gunst an – für Montgomery noch verlockender als das Geld –, die er beim letzten Mal erwartet, aber nicht genossen hatte. Sie begehrte ihn, hieß es in dem Schreiben. Sie schmachtete regelrecht. Dieses Erlebnis sollte er nie vergessen. Und beigefügt hatte sie der Mitteilung einen zusätzlichen Köder: zehn Hundertdollarscheine. Wahrscheinlich dasselbe Geld, das er notgedrungen hatte zurücklassen müssen.
Er steckte die Scheine ein, stieg in den Jeep und fuhr los. Sein Erpressungsplan hatte sich nicht bewährt; anscheinend war er getäuscht worden durch das, was er gesehen hatte. Jetzt ergab sich eine neue Gelegenheit. Und wie könnte noch etwas schief gehen, da er den Tausender schon in der Tasche hatte? Klar, sie spielte wahrscheinlich nicht mit offenen Karten, doch er unterstellte, dass sie kein zweites Mal die Knarre zückte. Weshalb sollte sie ihm so viel Kohle zukommen lassen, wenn sie ihr Angebot nicht ernst meinte? Bestimmt empfahl es sich, vorsichtig zu sein, und doch beurteilte Montgomery den heutigen Tag als den vielleicht glücklichsten seines Lebens. Und er nahm sich vor, derb mit ihr umzuspringen, sie ein wenig dafür zu bestrafen, dass sie ihm einen solchen
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