Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
liegen muss?«
»Ja, aber sie ist dehnbar. Manches Mal erfährt man vorher von den Generalen, dass man bis zum Ende der Schlacht liegen bleiben muss. Oder es kommen Sanis mit Tragen und holen einen vom Schlachtfeld. Heute wird gefilmt, deshalb ist die Sache ein wenig heikel, aber nachdem ich ›gefallen‹ war, wurde die Kamera auf einen anderen Abschnitt gerichtet. Also habe ich ein bisschen gepfuscht und mich fortgeschlichen.« Sein Gesicht zeigte ein schüchternes Grinsen. »Hier gibt’s ja Netteres zu sehen.«
»Im Vergleich zu Leichen?«, fragte Michelle und lächelte ihrerseits. »Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«
Später konnte man Eddie nochmals im Sattel sehen. Er und seine Männer unternahmen einen Erkundungsvorstoß gegen die Frontlinie der Union. Die Reiter preschten vorüber, galoppierten Anhöhen hinauf und hinunter und setzten in weitem Sprung über Hindernisse hinweg.
Michelle wandte sich an Bailey. »Wo hat er so gut reiten gelernt?«
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, was der Mann alles draufhat. Haben Sie schon welche von seinen Gemälden gesehen?«
»Nein, würde ich aber gern.«
Einige Zeit später ritt Eddie heran und warf Michelle seinen mit einem Federbusch geschmückten Hut zu.
»Wofür ist denn das?«, rief sie, indem sie den Hut fing.
»Ich bin nicht ›gefallen‹«, rief er zurück. »Offenbar bringen Sie mir tatsächlich Glück.« Dann sprengte er erneut davon.
Es folgte eine Damen-Modeshow mitsamt Teeparty. Anschließend gab es Unterricht in Tänzen der Bürgerkriegsära. Eddie suchte sich als Partnerin Michelle und brachte ihr die komplizierte Schrittfolge mehrerer Tänze bei. Zum Abschluss des Tages gab es einen Tanzball, der eigentlich auf Reenactment-Teilnehmer beschränkt sein sollte, doch Eddie hatte bei einem der Händler ein Kleid aus der Bürgerkriegszeit erworben und reichte es Michelle.
Verdutzt schaute sie ihn an. »Was soll ich damit?«
»Nun, wenn wir auf dem Ball tanzen wollen, müssen Sie einen passenden Fummel tragen. Kommen Sie, Sie können sich in meinem Bus umziehen. Ich stehe Wache, damit Ihr Ruf unbescholten bleibt.«
Eddie hatte zudem für Chip Bailey einen geeigneten Anzug besorgt, doch der FBI-Agent erklärte, sich verabschieden zu müssen.
»Dann fahren Sie mit mir«, sagte Eddie. »Für den zweiten Tag der Schlacht kann ich sowieso nicht bleiben. Heute Abend fahre ich ebenfalls.« Ihm entging nicht, dass Michelle sich bei dieser Aussicht ein wenig unbehaglich fühlte. »Ich verspreche Ihnen«, fügte er daher hinzu, »mich wie ein Gentleman zu verhalten. Außerdem haben wir ja im Anhänger Jonas als Anstandsdame dabei.«
Die beiden folgenden Stunden verbrachten er und Michelle mit Tanzen, Essen und Trinken.
Zuletzt musste Eddie sich setzen. Seine breite Brust wogte; Michelle hingegen war noch lange nicht außer Atem.
»Heiliger Strohsack, Mädchen, Sie haben Kondition, das muss ich Ihnen lassen.«
»Tja, ich habe heute auch nicht im Krieg gekämpft.«
»Ich fühle mich total zerschlagen, und mein Rücken bringt mich noch um. Ich reite schon zu lange und rackere mich mit diesen Kriegsspielen ab. Sind Sie mit dem heutigen Tag zufrieden?«
»O ja.«
Ehe sie aufbrachen, knipste Eddie von Michelle in ihrem Ballkleid ein Polaroidfoto. »Wahrscheinlich sehe ich Sie nie wieder in diesem Aufzug«, sagte er. »Deshalb ist es besser, ich halte es für die Nachwelt fest.«
Bevor sie die Rückfahrt antraten, legte Michelle wieder die Alltagskleidung an. Unterwegs unterhielten sie sich zunächst über die Schlacht im Besonderen und Reenactment-Veranstaltungen im Allgemeinen, dann über Michelles Herkunft und Familie.
»Sie hatten also mehrere Brüder?«, fragte Eddie.
»Zu viele, dachte ich gelegentlich. Ich bin die Jüngste, und mein Vater hat früher von mir geschwärmt, auch wenn er es nie zugeben würde. Er und meine Brüder sind allesamt Polizisten. Als ich beschloss, ebenfalls diesen Beruf zu ergreifen, war er nicht sonderlich erfreut. Er hat den Frosch noch immer nicht ganz geschluckt.«
»Ich hatte auch mal einen Bruder«, sagte Eddie halblaut. »Er hieß Bobby. Wir waren Zwillinge.«
»Ich weiß, ich habe davon gehört. Wirklich traurig.«
»Ein prächtiges Kerlchen war er. Total nett, hat alles für einen getan. Bloß hatte er zuletzt nicht mehr alle auf dem Ladestreifen. Ich hatte ihn gern, das können Sie mir glauben. Ich vermisse ihn noch heute schmerzlich.«
»Ihre Familie hat bestimmt sehr
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