Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
im Bezirksgefängnis in Untersuchungshaft.«
»Was hat er angestellt?«, fragte King.
»Das müssen Sie Harry fragen.« Williams ging zur Tür. »Ich werde die State Police um Unterstützung bitten.«
»Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht auch das FBI einschalten«, sagte Michelle. »Wenn es sich wirklich um einen Serienmörder handelt, kann VICAP ein Profil erstellen.« Die Abkürzung stand für Violent Criminal Apprehension Program, das Fahndungsprogramm der Bundespolizei für Gewaltverbrecher.
»O Mann. Ich hätte nie gedacht, dass ich in Wrightsburg mal ein VICAP-Formular ausfüllen muss.«
»Die Bürokratie wurde erheblich vereinfacht«, versuchte Michelle ihn zu trösten.
Nachdem der Polizeichef gegangen war, wandte Michelle sich an King. »Und wer sind Junior Deaver und die Battles?«
»Junior ist im Grunde ein prima Kerl, der sein ganzes Leben hier verbracht hat. Leider ist er auf die schiefe Bahn geraten. Die Battles sind eine ganz andere Geschichte. Sie sind die bei weitem reichsten Leute in der Gegend. Eine alteingesessene Südstaatenfamilie.«
»Und was genau bedeutet das?«
»Sie sind ein bisschen eingebildet, ein bisschen verschroben, ein bisschen exzentrisch…«
»Du meinst, ein bisschen verrückt«, sagte Michelle.
»Nun ja…«
»Jede Familie ist verrückt. Manche zeigen es nur deutlicher als andere.«
»Ich glaube, du wirst feststellen, dass die Battles in dieser Hinsicht ganz oben auf der Liste stehen.«
KAPITEL 7
Harry Lee Carrick lebte auf einem großen Anwesen am östlichen Rand von Wrightsburg. Als sie zu ihm fuhren, erzählte King seiner Partnerin alles, was sie über ihn wissen musste.
»Er hat schon vor Jahren hier als Anwalt gearbeitet. Dann ging er an das hiesige Berufungsgericht und später zum Obersten Gericht des Bundesstaates, wo er die letzten zwanzig Jahre verbracht hat. Er hat mir sogar den Eid abgenommen, als ich in Virginia als Anwalt zugelassen wurde. Seine Familie nimmt seit gut dreihundert Jahren eine wichtige Stellung ein. Nachdem er das Richteramt aufgegeben hatte, kehrte er in unsere Stadt zurück und ließ sich auf dem Anwesen der Familie nieder.«
»Und dieser Junior? Du hast gesagt, er sei auf die schiefe Bahn geraten.«
»Sagen wir mal, er hat gelegentliche Ausflüge in die Illegalität gemacht. Aber er war lange nicht mehr in Schwierigkeiten.«
»Bis jetzt.«
Sie passierten ein gusseisernes Tor, dessen zwei Flügel mit dem Buchstaben C geschmückt waren.
Michelle blickte sich auf dem weitläufigen Grundstück um. »Nettes Plätzchen.«
»Harry hat sich ganz gut durchs Leben geschlagen, und seine Familie hat sowieso genug Geld.«
»Verheiratet?«
»Seine Frau starb in jungen Jahren. Er hat sich nie auf eine neue Ehe eingelassen und hat keine Kinder. Er ist der letzte Carrick, soviel ich weiß.«
Sie sahen aus der Ferne ein großes Ziegelhaus mit weißen Säulen zwischen den hohen Bäumen. Doch King bog ab und fuhr einen schmalen Kiesweg entlang, bis er vor einem kleinen, weiß gestrichenen Schindelgebäude hielt.
»Was ist das?«, fragte Michelle.
»Das feudale Anwaltsbüro von Harry Lee Carrick.«
Sie klopften an. Eine angenehme Stimme sagte: »Herein!«
Der Mann erhob sich hinter dem großen Schreibtisch und streckte ihnen die Hand entgegen. Harry Carrick war eins achtzig groß und schlank, hatte gepflegtes silbriges Haar und eine rötliche Gesichtsfarbe. Er trug eine graue Hose, einen blauen Blazer, ein weißes Button-down-Hemd und eine rot-weiß gestreifte Krawatte. Seine Augen hatten die Farbe von Immergrün und strahlten Verschmitztheit aus. Die Augenbrauen waren buschig und von der gleichen Farbe wie das Haar. Sein Händedruck war fest, und sein melodischer Südstaatenakzent war so angenehm wie eine freundliche Umarmung oder ein Schluck Whisky, den man in einem bequemen Sessel genießt. Er hatte die Energie und Beweglichkeit eines Mannes, der mindestens zwanzig Jahre jünger war, als er an Jahren zählte. Kurz, er war die Hollywood-Version des Idealbildes, das man von einem Richter hatte.
»Ich hatte mich schon gefragt«, sagte Harry zu Michelle, »wann Sean dazu kommt, Sie mir vorzustellen. Also fühlte ich mich genötigt, diese Angelegenheit persönlich zu übernehmen.«
Er führte sie zu einer Sitzecke. Stabile Bücherregale nahmen fast die gesamte Wandfläche des kleinen Raumes ein. Die Möbel sahen antik und häufig benutzt aus. Wie Miniaturzirruswolken schwebte Zigarrenrauch im Zimmer, und Michelle entdeckte eine alte
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