Sean King 03 - Im Takt des Todes
wie?«
»Indem ich mir meinen Anwaltshut aufsetze und lüge, dass sich die Balken biegen.«
6.
A n diesem Abend setzte Sean sich im Motelzimmer zu Michelle.
»Der Kerl, mit dem du dich geprügelt hast, hat dich wegen Körperverletzung angezeigt«, sagte er. »Ich könnte ihn dazu bringen, die Anzeige fallen zu lassen, aber der Richter wird eine Gegenleistung von dir erwarten.«
Michelle hatte sich vor ihm hin gekauert. »Und welche?«
»Eine psychiatrische Behandlung. Horatio kennt eine Einrichtung, wo man dir helfen könnte …«
Michelle starrte ihn an. »Du meinst, ich bin verrückt?«
»Was ich meine oder nicht, spielt keine Rolle. Wenn du wegen Körperverletzung vor Gericht willst und längere Zeit im Knast verbringen möchtest, okay. Aber wenn du dich freiwillig einweisen lässt, wird die Anklage fallen gelassen. Das ist ein ziemlich guter Deal.« Sean betete, dass sie nie erfuhr, was für ein Lügenmärchen er ihr erzählte.
Zum Glück war Michelle bereit, sich einweisen zu lassen. Außerdem unterschrieb sie eine Erklärung, dass man Sean über die Behandlung und ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten solle. Jetzt musste Horatio Barnes nur noch seine Psychomagie wirken lassen.
»Aber rechne nicht damit, dass über Nacht ein Wunder geschieht«, sagte der Psychiater am nächsten Tag in einem Coffeeshop zu Sean. »So etwas braucht seine Zeit, und Michelle hat eine zerbrechliche Persönlichkeit.«
»Zerbrechlich ist sie mir nie erschienen.«
»Nach außen hin wirkt sie nicht so, aber nach innen … Ich glaube, da sind ganz andere Kräfte am Werk. Sie ist eine klassische Überfliegerin mit deutlich obsessiven Zügen. Sie hat mir erzählt, dass sie früher jeden Tag stundenlang Fitnesstraining gemacht hat. Stimmt das?«
Sean nickte. »Eine ärgerliche Angewohnheit, auch wenn ich sie im Augenblick vermisse.«
»Ist sie auch eine Ordnungsfanatikerin? Die Frage wollte sie mir nicht beantworten.«
Fast hätte Sean den Kaffee ausgespuckt, den er gerade schlucken wollte. »Diese Frage hättest du dir sparen können, hättest du je das Innere ihres Wagens gesehen. Sie ist unglaublich schlampig. Sie kann an keinem Müllberg vorbeigehen, ohne etwas draufzuwerfen.«
»Sie ist die Jüngste von fünf Geschwistern? Und die einzige Tochter?«
Sean nickte wieder. »Ja. Ihr Vater war Polizeichef in Tennessee, und ihre Brüder sind allesamt Cops.«
»Dann liegt die Latte ziemlich hoch, Sean. Vielleicht zu hoch. Würde ich zu dieser Familie gehören, hätte man mich vor meinem Examen bestimmt zwanzig Mal eingelocht.«
Sean lächelte. »Du warst der reinste Serientäter, was?«
»He, Mann, wir hatten die Sechzigerjahre. Da war jeder unter dreißig ein Serientäter.«
»Ich habe noch keinen Kontakt mit ihren Eltern aufgenommen. Ich wollte nicht, dass sie davon erfahren.«
»Wo wohnen die Leute?«
»Sie sind zurzeit auf Hawaii auf ihrer zweiten Hochzeitsreise«, antwortete Sean. »Ich habe mit Michelles ältestem Bruder gesprochen, Bill Maxwell. Er ist Streifenpolizist in Florida. Ich habe ihm erzählt, was passiert ist – einen Teil der Geschichte jedenfalls. Bill wollte herkommen, aber ich habe ihm gesagt, er soll warten.« Rundheraus fragte Sean: »Wird sie sich wieder erholen?«
»Ich weiß, was du hören willst, aber das liegt allein bei ihr selbst.«
Später an diesem Tag besuchte Sean Michelle in ihrem Zimmer in der Anstalt. Sie trug Jeans, Sneakers und ein weites Sweatshirt; das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sean setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und nahm ihre Hand. »Bald geht es dir besser. Du bist jetzt am richtigen Ort.«
Er mochte sich irren, hatte aber das Gefühl, dass sie als Antwort seine Hand drückte. Sofort erwiderte er den Druck.
An diesem Abend ging Sean zu einem Geldautomaten und hätte beinahe gelacht, als er die klägliche Summe auf seinem Kontoauszug las. Allein die Aufnahmegebühren der Privatklinik waren ein kleines Vermögen, und Michelles Versicherung zahlte keinen Cent. Sean hatte seine Lebensversicherung aufgekündigt und sich das Geld auszahlen lassen, sonst hätte es vorne und hinten nicht gereicht, doch seit Michelle verletzt worden war, hatte er keinen Tag mehr gearbeitet, und nun sah er sich einer ernsten finanziellen Krise gegenüber.
Sean nutzte jeden seiner Kontakte, um einen passenden Job zu finden, doch niemand konnte ihm helfen. Für die einträglichsten Ermittlerjobs in D. C. brauchte man Sicherheitseinstufungen auf höchster
Weitere Kostenlose Bücher