Sean King 03 - Im Takt des Todes
Michelle beschloss, es auf direkterem Weg zu probieren. Natürlich war das riskant, doch im Augenblick hatte sie nicht allzu viele Möglichkeiten.
»Viggie, wir versuchen herauszufinden, wer dir Monk weggenommen hat. Verstehst du? Das ist der einzige Grund, warum wir hier sind.«
Michelle beobachtete, wie Viggie die Schultern hängen ließ. Da Michelle nicht wusste, wie sie diese Körpersprache deuten sollte, machte sie einfach weiter. »Wenn er Angst vor jemandem hatte oder wenn er Geheimnisse vor anderen hatte, würde es uns sehr helfen, wenn wir wüssten, vor wem. Wir versuchen nur zu helfen.«
»Leute, die sagen, dass sie helfen wollen, haben andere Gründe.«
»Wir nicht, Viggie. Glaub mir.«
Viggie starrte sie an. »Wirst du fürs Helfen bezahlt? «
Die Frage traf Michelle unvermittelt, aber sie fühlte, dass es nicht gut gewesen wäre, das Kind anzulügen. »Es ist mein Job, anderen Leuten zu helfen. So verdiene ich meinen Lebensunterhalt.«
»Du wirst bezahlt? Deshalb verbringst du Zeit mit mir, nicht wahr? Ohne Geld würdest du gar nicht bei mir sein wollen. Ich wette, du würdest viel lieber mit deinen echten Freunden rumhängen.«
»Ich habe nicht viele echte Freunde, Viggie. Eigentlich habe ich nur Sean.«
»Ich wette, das stimmt nicht.«
»Warum glaubst du, alle hätten viele Freunde, nur du nicht? Und es gibt ja noch andere Kinder in Babbage Town und in der Schule.«
»Die sind nicht wie ich. Die halten mich für seltsam.«
»Jeder ist auf seine Art seltsam. Wärest du je in meinem Wagen mitgefahren, wüsstest du, wovon ich rede. Der ist voller Müll, den ich einfach nicht loswerde, egal wie sehr ich mich bemühe.«
Viggie starrte sie an. »Deshalb haben sie Mr. Barnes hierhergeholt. Weil ich seltsam bin.«
Michelle schluckte. »Nein, Mr. Barnes ist wegen mir gekommen. Er hilft mir, ein paar Probleme zu lösen … aus der Zeit, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
»Wirklich?« Michelle nickte. »Schwörst du das? Du sagst das nicht einfach so?«
»Ich schwöre es. Der arme Horatio. Ich bin immer aufgestanden und weggegangen, wenn er mir Fragen gestellt hat, und dabei will er mir doch nur helfen.«
Mit leiser Stimme sagte Viggie: »Das habe ich auch gemacht. Warum bist du weggelaufen?«
Michelle zögerte – nicht, weil sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte. Es fiel ihr schwer, sie auszusprechen. »Ich hatte Angst.«
»Vor was?«, hakte Viggie nach und starrte Michelle weiterhin an.
»Ich hatte Angst, dass er der Wahrheit zu nahe kommt und dass ich nicht damit fertig werde.«
Viggie nahm ihr Paddel wieder. »Ich auch«, flüsterte sie.
»Weißt du, ich erinnere mich nicht richtig daran, was mit mir geschehen ist. Deshalb will Mr. Barnes mich hypnotisieren. Er will mir helfen, mich zu erinnern.«
»Und? Lässt du ihn?«
»Ich weiß es nicht. Was denkst du?«
»Du willst meine Meinung hören?«
»Sicher. Du bist wirklich klug. Soll ich, oder soll ich nicht? Manchmal ist es gar nicht so toll, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich finde, du solltest dich hypnotisieren lassen«, erklärte Viggie entschlossen.
»Warum?«
»Wissen ist immer besser, oder?«
Michelle antwortete nicht sofort darauf. »Wahrscheinlich hast du recht. Es ist besser, man weiß es.«
»Können wir jetzt zurück?«, fragte Viggie und schob ihr Paddel ins Wasser.
»Klar. Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht.«
Viggie nickte, sagte aber nichts. Als sie umdrehten und zurückpaddelten, humpelte ein Mann aus dem Wald auf der Uferseite von Camp Peary. Ian Whitfield nahm sein Fernglas herunter, doch sein Blick blieb auf das kleine Zweimannboot gerichtet. Einer seiner Männer hatte ihn auf die beiden Kanuten aufmerksam gemacht. Whitfield nahm ein Handy vom Gürtel, drückte eine Nummer und sprach mit grimmigem Gesicht. Ein paar Minuten später gesellte sich sein Gehilfe zu ihm, Mr. Sixpack.
»Ex-Secret Service?«, fragte Whitfield. »Beide? Sie und Sean King?«
»Ja. Michelle Maxwell ist hier unten, um für die Leute von Babbage Town die Umstände des Todes von Turing und Rivest zu untersuchen.«
Whitfield sagte: »Turings Tochter war in dem Kanu.«
»Was wollen Sie deswegen unternehmen, Sir?«
Whitfield beantwortete die Frage nicht. Er stand einfach nur da und schaute durch den Zaun aufs Wasser. Schließlich drehte er sich wieder zu Mr. Sixpack um. »Manchmal ist das ein verdammt undankbarer Job, mein Sohn.« Und mit diesen Worten humpelte er in den Wald zurück.
Als sie zum Bootshaus zurückgekehrt
Weitere Kostenlose Bücher