Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
weiter.
Er erreichte die dicke Tür und schaute auf den Schlüsselbund in seiner Hand. Dann betrachtete er das Schloss und versuchte zu erkennen, welcher Schlüssel passen würde. Auf diese Weise konnte er ungefähr drei Viertel direkt ausschließen, den Rest musste er durchprobieren.
Gleich der dritte Schlüssel passte.
Mit einem lauten Klicken öffnete sich das Schloss. Gabriel erstarrte. Er glaubte, schwere Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Doch nachdem er eine Minute lang die Luft angehalten und gebetet hatte, Mr. Sam würde nicht geweckt werden, steckte er den Schlüsselbund in die Tasche und zog an der Tür.
Die Scharniere waren gut geölt. Mr. Sam hielt immer alles bestens in Schuss. Einer der Gründe, warum Gabriel hier heruntergekommen war - vielleicht sogar der wichtigste -, war der, dass er sehen wollte, wo vor langer, langer Zeit die Sklaven festgehalten worden waren.
Als Gabriel die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, knipste er seine kleine Taschenlampe ein. Als Erstes sah er eine Reihe alter Aktenschränke. Dann traf der Lichtstrahl die andere Wand. Gabriel klappte das Kinn herunter. Da waren vollgeschriebene Tafeln mit Fotos von Leuten, Orten und Indexkarten. Staunend und verwirrt trat er näher. An den anderen Wänden entdeckte weitere Tafeln.
Irgendetwas nagte tief in seinem Inneren.
Angst.
Und doch gewann die Neugier schließlich wieder die Oberhand. Gabriel trat an die Tafel heran, die der Anfang zu sein schien, zumindest dem Datum nach zu urteilen, das darauf stand. Namen, Orte, Ereignisse, Daten und andere Informationen fügten sich hier zu einem großen Ganzen zusammen. Als Gabriel der Geschichte durch den Raum folgte, in dem vor einhundertfünfzig Jahren Menschen mit der gleichen Hautfarbe wie er gefangen gehalten worden waren, kehrte langsam die Angst wieder zurück.
Gabriel hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Das war einer der Gründe, warum er so ein hervorragender Schüler war. Jetzt nahm er so viel in sich auf, wie er konnte, doch angesichts der Fülle an Informationen lief sein Verstand beinahe über. Gabriel konnte es nicht fassen. Was musste Sam Quarry für ein Gedächtnis haben! Gabriel hatte schon immer gewusst, dass der Mann klug war und dass es nicht viel gab, was ihn geistig überforderte, aber das hier ...
Gabriel betrachtete den Mann mit neuer Ehrfurcht.
Aber da war noch immer die Angst, und sie nahm ständig zu.
Also konzentrierte Gabriel sich auf die Geschichte an den Wänden. Deshalb hörte er nicht, wie die Tür sich öffnete.
Als eine Hand ihn an der Schulter packte, drohten seine Beine nachzugeben, und fast hätte er laut geschrien.
»Gabriel!«
Er wirbelte herum und sah seine Mutter in ihrem alten Bademantel.
»Was machst du hier unten?«
»Momma?«
Sie schüttelte ihn. »Was machst du hier unten?«, wiederholte sie wütend und ängstlich zugleich. »Ich habe überall nach dir gesucht. Ich dachte schon, dir wäre was passiert. Du hast mich zu Tode erschreckt.«
»Tut mir leid, Momma.«
»Sag schon, was machst du hier?«, verlangte sie noch einmal zu wissen. »Erzähl es mir.«
Gabriel deutete auf die Wände. »Sieh mal ...«
Ruth Anns Blick schweifte langsam durch den Raum, doch im Unterschied zu ihrem Sohn war sie kein bisschen neugierig. Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Du darfst gar nicht hier runter. Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«
Gabriel zog den Schlüsselbund hervor. Seine Mutter riss ihn dem Jungen aus der Hand.
»Momma, bitte. Schau doch.« Aufgeregt deutete er auf die Wände.
»Ich werde mir gar nichts anschauen. Ich werde dich ins Bett verfrachten.«
»Sieh doch mal hier, das Bild von diesem Mädchen! Ich habe sie in der Schule im Fernsehen gesehen.«
Ruth Ann schlug ihm ins Gesicht. Gabriel war entsetzt. Das hatte Momma noch nie getan.
»Jetzt will ich dir mal etwas sagen«, zischte sie. »Mr. Sam hat uns sein Heim gegeben. Wenn er tot ist, sollen wir sein Land und dieses Haus hier bekommen. Wir haben ihm alles zu verdanken, was wir haben. Wenn du auch nur ein falsches Wort über diesen Mann sagst, schlag ich dich windelweich!«
»Aber Momma ...«
Sie hob die Hand. Gabriel wich zurück.
»Und lass mich dir noch etwas sagen«, fügte Ruth Ann drohend hinzu. »Ich kenne Sam Quarry schon sehr lange, aus einer Zeit, als du nicht viel größer warst als meine Faust. Er hat uns aufgenommen, ohne einen Grund dafür zu haben. Er ist ein guter Mann. Was er hier unten macht, geht nur ihn selbst etwas an.«
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