Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
die fünfte Seite der mit Maschine geschriebenen Notizen blickte, zitterten ihre Hände. Die Kopfzeile lautete: »Kindheit - Tennessee«. Sie schluckte mit trockenem Mund, hustete, rang nach Luft, und das machte es noch schlimmer. Der Speichel gerann ihr im Mund, so wie damals, als sie bei der Ruderregatta beinahe an Erschöpfung gestorben wäre. Das Rennen hatte ihr eine Silbermedaille eingebracht, die ihr mit jedem Tag weniger bedeutet hatte.
Michelle griff nach einer Flasche Mineralwasser und trank. Dabei tropfte Wasser auf die Kopien. Michelle fluchte und wischte so wütend über das Papier, dass sie es beinahe zerriss. Tränen liefen ihr über die Wagen, ohne dass sie den Grund dafür wusste. Sie hob das eingerissene Papier dicht vor die Augen, konnte die Schrift aber nicht mehr entziffern und schaute aus dem Wagen in die dichten Regenschleier. Das Unwetter hatte die Leute vertrieben; die Straßen waren leer.
Michelle richtete den Blick wieder auf die Seiten, aber da war nichts mehr. Natürlich standen die Worte immer noch da, nur konnte Michelle sie nicht sehen.
»Du schaffst es«, feuerte sie sich selbst an. »Du kriegst das hin.«
Michelle riss sich zusammen, konzentrierte sich.
»Kindheit ... Tennessee«, begann sie.
Sie war wieder sechs Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Tennessee. Ihr Dad war Polizeibeamter auf dem Weg nach oben, und ihre Mom war ... nun, ihre Mom. Michelle hatte vier ältere Brüder, die damals alle schon ausgezogen waren. Nur noch die kleine Michelle war zu Hause gewesen.
Mit einem Mal fand sie sich wieder zurecht. Die Worte waren klar, und auch die Bilder wurden deutlicher, je tiefer sie in diesen abgeschiedenen Winkel ihrer Erinnerungen kroch. Als sie umblätterte und ihr Blick auf das Datum fiel, war es, als hätte ein Blitz es in ihr Inneres eingebrannt. Eine Milliarde Volt Schmerzen und ein gequälter Schrei, den man beinahe sehen und fühlen konnte.
Michelle starrte aus dem Fenster. Es goss jetzt wie aus Eimern. Die Straßen waren immer noch leer.
Nein, doch nicht ... Als sie die Augen zusammenkniff, sah sie einen großen Mann, der ohne Schirm und Mantel im strömenden Regen stand. Er war durchnässt. Hemd und Hose klebten ihm auf der Haut. Er starrte Michelle an, sie starrte zurück. Weder Furcht noch Hass oder Mitgefühl waren im Blick des Mannes zu erkennen, als er sie durch den Regen hindurch beobachtete. Nur eine unterschwellige Traurigkeit, die zu Michelles Verzweiflung passte.
Michelle ließ den Motor an, legte den Gang ein und trat aufs Gaspedal. Als sie an dem Mann vorbeischoss, schaute sie zu ihm. Ein Blitz zuckte und machte die Nacht einen Wimpernschlag lang zum Tag. In der Explosion aus grellem Licht und krachendem Donner waren ihrer beider Bilder wie eingefroren, als sie einander anschauten.
Sean King sagte kein Wort. Er versuchte auch nicht, Michelle aufzuhalten. Er stand einfach da, das nasse Haar in der Stirn. Doch sein Blick war so eindringlich, wie Michelle es noch nie gesehen hatte. Es machte ihr Angst. Seans Blick schien ihr die Seele aus dem Leib reißen zu wollen.
Eine Sekunde später war Michelle um die Ecke gebogen und verlangsamte das Tempo. Sie ließ das Seitenfenster herunter, stoppte neben einem Mülleimer und warf die Kopien hinein.
Augenblicke später war ihr SUV im Unwetter verschwunden.
1.
L uftschlangen und Maschinengewehre. Funkelnde Löffel gruben sich in cremige Leckereien, während schwielige Finger sich um stählerne Abzugsbügel legten. Fröhliches Lachen, als Geschenke ausgepackt wurden, begleitet vom bedrohlichen Peitschen eines landenden Helikopters.
Die Anlage war vom Verteidigungsministerium offiziell der Marine-Nachschubbasis in Thurmont zugeteilt, doch die meisten Amerikaner kannten sie als Camp David. Aber egal, welchen Namen man benutzte, es war kein normaler Ort für einen Kindergeburtstag. Ursprünglich ein Erholungslager, das zur Zeit der Großen Depression erbaut worden war, diente die Anlage seit Jahrzehnten als Landsitz der US-Präsidenten. Franklin D. Roosevelt hatte ihn »ShangriLa« getauft, denn er hatte den Platz der Präsidentenjacht eingenommen. Seinen heutigen, weniger exotischen Namen hatte das Anwesen von Dwight D. Eisenhower bekommen, der ihm den Namen »Camp David« gegeben hatte, nach seinem Enkel. Das einhundertdreißig Morgen große, ländliche Areal bot Möglichkeiten für die verschiedensten Freizeitaktivitäten. Es gab Tennisplätze, Wanderwege und genau ein Übungsloch für präsidiale
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