Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
der Quarrys. Tag für Tag, Jahr für Jahr war er stärker geworden und hatte sich wie ein Tumor in Quarrys Hirn ausgebreitet.
Quarry setzte sich auf die Couch und griff nach der Ginflasche. Doch bevor er einen Schluck trank, entschied er sich anders, stellte die Flasche wieder weg, stand auf und schnappte sich die Autoschlüssel vom Tisch.
Zwei Minuten später war er wieder auf der Straße und starrte zum Himmel hinauf, der so voller Sterne war, dass man fast hätte glauben können, es sei Tag. Quarry kurbelte das Fenster herunter, schaltete das Radio ein und trank den Gin. Die Hitze der Nacht schlug ihm ins Gesicht. Quarry hasste Klimaanlagen. Die Atlee-Plantage hatte nie eine gehabt, ebenso wenig wie jedes Auto, das er je besessen hatte. Ein Mann musste schwitzen. Vor dem Schweiß davonzulaufen war so, als würde man vor dem wegrennen, was einen zu einem Menschen machte.
Quarrys alter Truck fuhr zwanzig Meilen über Staub und Schotter und schließlich auf Asphalt, der noch immer heiß von der Sonne war.
Und dann war er da. Er war schon tausend Mal hier gewesen, und jeder Besuch war gleich und doch anders.
Quarry kannte jeden mit Vornamen. Die Besuchszeit war längst vorbei, aber das kümmerte ihn nicht. Er war Sam Quarry, den jeder kannte, denn jeder kannte Tippi Quarry. Sie hatten sie nach der Schauspielerin benannt. Cameron Quarry hatte den Film mit den vielen durchgeknallten Vögeln geliebt. Suzie, ihre jüngste Tochter, war die Frau, die den Schwarzen geheiratet hatte, um sich dann wieder von ihm scheiden zu lassen. Sie lebte jetzt in Kalifornien und tat Gott weiß was. Ihr Vater wusste es nicht genau. Allerdings war er sicher, dass er es missbilligen würde, hätte er es gewusst. Daryl war schon immer sein Baby gewesen.
Nur dass mein verdammtes Baby gerade eine dreifache Mutter umgebracht hat.
Doch keiner von ihnen war wie Tippi geendet. Tippi war vergangenen Monat sechsunddreißig geworden. Sie war schon seit dreizehn Jahren, acht Monaten und siebzehn Tagen hier. Quarry wusste das so genau, weil er im Kopf eine Strichliste führte, als zähle er seine letzten Tage auf Erden, und in gewisser Weise war es auch so. Seit Tippi hier war, hatte sie kein einziges Mal den Fuß aus diesem Gebäude gesetzt, und sie würde es auch nie tun.
Quarrys lange Beine trugen ihn zum Zimmer seiner Ältesten. Er öffnete die Tür so, wie er es schon unzählige Male getan hatte. Im Zimmer war es dunkel. Quarry schlich zu dem Stuhl, auf dem er schon so oft gesessen hatte, dass die Farbe abgescheuert war. Der Schlauch steckte in ihrem Hals. Bei langfristiger Behandlung taten die Ärzte das immer, weil es sauberer war. Die daran angeschlossene Pumpe arbeitete fleißig und blähte Tippis Lunge. Die Überwachungsgeräte piepten. Ein Sauerstoffschlauch führte von der Wand bis zur Nase seiner Tochter, und mittels computergesteuerter Infusion wurde sie mit Medikamenten und Nahrung versorgt.
Es gab da ein kleines Ritual, das Quarry stets befolgte. Er strich Tippis Haar vom Kissen auf ihre Schulter. Wie oft hatte er sich dieses Haar um den Finger gewickelt, als Tippi noch ein kleines Mädchen gewesen war? Dann berührte er ihre Stirn, die sie jedes Mal gefurcht hatte, wenn er sie als Kind in die Badewanne gesteckt hatte. Schließlich küsste er sie auf die Wange. Als Kind waren die Haut und die Knochen darunter angenehm zu berühren gewesen. Nun war die Haut verwelkt und hart, wie bei einer alten Frau.
Nachdem er das Ritual beendet hatte, nahm Quarry Tippis Hand, lehnte sich zurück und sprach zu ihr. Dabei schweiften seine Gedanken zu den Phrasen zurück, mit denen die Ärzte ihn und Cameron über den Zustand ihrer Tochter informiert hatten.
Massiver Blutverlust.
Sauerstoffmangel im Hirn.
Koma.
Und schließlich: irreversibel.
Das waren Worte, die keine Eltern je über ihre Kinder hören wollten. Tippi war nicht tot, aber sie war so nahe daran, wie es biologisch möglich war. Sie atmete nur noch dank einer Maschine und teurer Medikamente. Quarry holte ein Buch aus seiner Tasche und begann, Tippi im Licht der kleinen Nachttischlampe vorzulesen.
Bei dem Buch handelte es sich um Stolz und Vorurteil, Jane Austens berühmten Roman. Es war Tippis Lieblingsbuch, seit sie es als Teenager zum ersten Mal gelesen hatte. Ihre Begeisterung hatte Quarry dazu bewegt, das Buch ebenfalls zu lesen, sogar mehrmals. Bevor Tippi hier gelandet war, hatte Quarry sie immer als reales Gegenstück zu Jane Austens Elizabeth Bennet betrachtet.
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