Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
Warum sollten Sie lügen?«
»Verdammt, manche Leute sind einfach klüger als ihnen guttut.«
Willas Unterlippe zitterte leicht, als sie sich von Einstein wieder in den verängstigten Teenager zurückverwandelte, der sie war. »Ich will nach Hause. Ich will meine Eltern sehen, und meinen Bruder, meine Schwester. Ich hab nichts falsch gemacht.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hab nichts falsch gemacht. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum Sie das tun. Ich verstehe es einfach nicht!«
Quarry senkte den Blick. Er konnte nicht in diese großen, verweinten Augen voller Angst blicken. »Es geht hier nicht um dich, Willa. Es ist nur ... Nur so kann das funktionieren. Ich habe mir viele Möglichkeiten überlegt, und das hier ist die einzige Chance, die ich hatte, die einzigen Karten, die ich ausspielen konnte.«
»Worauf sind Sie denn so wütend? Wem wollen Sie es heimzahlen?«
Quarry stand auf. »Wenn du mehr Bücher haben willst, lass es mich wissen.«
Er floh aus dem Raum und ließ Willa mit ihren Tränen alleine. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so geschämt.
Ein paar Minuten später beäugte Quarry Diane Wohl, die ihm gegenüber auf den Fersen in einer Ecke ihrer »Zelle« hockte. Auch mit ihr hätte er Mitleid haben sollen, aber dem war nicht so. Willa war ein Kind. Sie hatte nie die Möglichkeit gehabt, eigene Entscheidungen zu treffen oder Fehler zu machen. Diese Frau hier hatte beides getan.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte Wohl mit zitternder Stimme.
Quarry setzte sich an den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Ein Teil von ihm war noch immer bei Willa; aber er sagte: »Bitte sehr.«
»Darf ich meine Mutter anrufen? Ich will sie nur wissen lassen, dass es mir gut geht.«
»Das geht leider nicht. Heutzutage kann man alles zurückverfolgen. Die Regierung hat ihre Augen sogar im All. Tut mir leid, aber so ist das nun mal.«
»Können Sie ihr wenigstens sagen, dass ich okay bin?«
»Kann ich machen. Geben Sie mir die Adresse.«
Quarry reichte Diane einen Stift und Papier. Diane legte die Stirn in Falten, als sie die Adresse niederschrieb und das Papier zurückgab. Dann fragte sie: »Warum haben Sie mir Blut abgenommen?«
»Ich brauchte es.«
»Wofür?«
Quarry schaute sich in dem kleinen Raum um. Es war zwar kein schickes Hotel, aber Quarry hatte schon an schlimmeren Orten gewohnt. Er hatte sich bemüht, der Frau alles zu bieten, was sie brauchte, um sich einigermaßen wohlzufühlen.
Ich bin nicht böse, dachte Quarry. Wenn er sich das noch öfter sagte, würde er es irgendwann vielleicht sogar glauben.
»Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen?«
Diane schien überrascht, nickte aber.
»Haben Sie Kinder?«
»Nein. Warum?«
»Nur so.«
Diane rückte näher an ihn heran. Wie Willa, so hatte auch sie sich umgezogen. Quarry hatte die Kleider mitgebracht, die Diane bei Talbot's gekauft hatte. Sie passten ausgezeichnet.
»Werden Sie mich gehen lassen?«, fragte sie.
»Das hängt davon ab.«
»Von was?«
»Wie es läuft. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass ich von Natur aus nicht gewalttätig bin. Aber ich kann nicht in die Zukunft blicken.«
Diane setzte sich Quarry gegenüber an den Tisch und verschränkte die Hände.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich in meinem Leben getan haben könnte, das Sie zu dem hier hätte verleiten können. Ich kenne Sie ja nicht mal. Was habe ich getan, womit ich das hier verdient habe?«
»Ich wüsste da schon was«, sagte Quarry.
Diane hob den Blick. »Was denn? Sagen Sie es mir!«
»Denken Sie selbst darüber nach. Zeit genug haben Sie ja.«
22.
E s war früh am Morgen, als das kleine Flugzeug über die gräulichen Wolken hüpfte, die noch vom Gewitter übrig geblieben waren, das über die Smoky Mountains hinweggezogen war. Später, als das Flugzeug zur Landung in Nashville ansetzte, machte Michelle das, was sie schon den ganzen Flug über getan hatte: Sie starrte auf ihre Hände.
Als die Flugzeugtür sich öffnete, sprang sie mit ihrer Tasche heraus, besorgte sich einen Mietwagen und war nur zwanzig Minuten nach der Landung auf der Straße. Allerdings trat sie das Gaspedal nicht wie üblich durch. Stattdessen fuhr sie mit beruhigenden fünfzig Meilen die Stunde. Michelle hatte es nicht eilig, zu dem zu kommen, was sie hier erwartete.
Ihrem Bruder Bill zufolge war ihre Mutter gut gelaunt aufgewacht, hatte eine Schüssel Müsli zum Frühstück gegessen und im Garten gearbeitet. Später hatte sie dann
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