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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Dunkeln würden sie uns kaum noch finden.
    Nach ein paar Minuten hörten wir Pufferteller knallen, und unser ehemaliger Zug verließ die Station.
    Bevor es ganz dunkel war, wollten wir unsern Vorrat verputzen. Unser brüderliches Abendessen war ein Fest. Mein Brot mit meinem Soldatenspeck und seine gekochte Kartoffel im Kohlblatt verschönten uns den Rest des aufregenden Tages. Satt und seelisch erschöpft, schliefen wir bald auf dem kümmerlichen Stroh ein.
    Gepolter weckte uns. Ich linste hinaus: Wir wurden weggezogen und an einen Zug aus ebensolchen Güter- und Flachwagen angekuppelt. Vierzig Minuten später setzte sich diese Riesenschlange auf Rädern in Bewegung, zum Glück nach Westen. Ich wusste zu dieser Zeit schon, dass leere Züge höchstens drei Stationen weit fuhren. Sie bekamen freie Fahrt, wenn gerade keine Militärzüge nach Osten unterwegs waren. Auf der nächsten Station mussten wir irgendwo untertauchen, bis sie uns auf diesem Streckenabschnitt vergessen hatten.
    Es war fast Mitte August und warm. Wir durchfuhren die Waldsteppenzone. Immer öfter sahen wir kasachische Nomadenlager. Von den Zikaden und den phantastischen Gerüchen der nächtlichen Steppe wurde uns, die wir all das nicht gewohnt waren, ganz schwindlig.
Unmenschen
    Während der Fahrt erzählte Mitja mir die gruselige Geschichte von der Bettlerbande, die sich in der Stadt Omsk seiner bemächtigt und gut an ihm verdient, seine Almosen versoffen und ihn grundlos verprügelt hatte. Es reichte ihnen nicht, dass er blind und sein Gesicht vom Bombensplitter entstellt war. Damit er bei den mildtätigen Leuten noch mehr Mitleid erregte, wollten sie ihm die rechte Hand abschneiden. Zu seinem Glück kriegte er mit, was sie mit ihm vorhatten. Da kam im richtigen Moment ein Fuhrwerk an der Korndarre des Kolchos vorbei, wo die Bande der Unmenschen nächtigte – ein Bauer brachte Frau und Tochter zum Frühzug. Mitja hörte das Fuhrwerk. Er entwischte im Dunkeln den Klauen der Bettelbanditen, lief zu dem Wagen und klammerte sich an die Deichsel.
    »Onkel, Onkel, nimm mich mit«, schrie er, »die wollen mir die Hand abhacken! Ich bin der blinde Mitja, hilf mir, hilf!«
    Der Wagenlenker kapierte erst mal gar nichts, doch dann sah er, wie zwei üble Gestalten an dem Jungen zerrten, und entschied, das müsse eine ernste Sache sein. Er zog das Berdangewehr aus dem Stroh, das er für alle Fälle dort liegen hatte, und ballerte zur Abschreckung in die Luft. Die beiden Kerle ließen Mitja los, brüllten aber, das wäre ihr Neffe, und verlangten, ihn herauszugeben.
    »Tu’s nicht, Onkel, ich bin nicht ihr Neffe, tu’s nicht! Die wollen mir die Hand abhacken! Sie sind zu faul zum Betteln, trinken bloß Wodka und schlagen mich. Dass ichblind bin und verstümmelt, reicht ihnen nicht, sie wollen es noch schlimmer …«
    »Ich knall sie ab, die höllischen Bestien, die Schmeißfliegen, wie Faschistengesindel! Ich hab selber ein Holzbein, Kleiner, siehst du, seit zweiundvierzig hab ich statt des richtigen Beins ein Stück Holz.«
    Der Bauer feuerte noch einmal mit der Flinte in die Dunkelheit. Die Gauner ließen sich fallen und krochen in den Straßengraben.
    Die Banditen hätten womöglich sonst was mit Mitja gemacht: ihm das zweite Auge ausgestochen, ein Stück Nase oder Lippe abgerissen, Hand oder Fuß abgehackt, die Zunge rausgeschnitten, damit er nicht mehr sprechen, nur noch lallen konnte, ihn als Monster in einen Korb gesetzt und in den Städten und Dörfern zur Schau gestellt, um aus dem Mitleid und der Gutherzigkeit der Menschen Geld herauszupressen.
    Meine Schutzengel bewahrten mich vor solchem Geschmeiß. Aber ich habe auf meinem Weg genug entartete Gauner gesehen, die auf Kinder Jagd machten wie auf Tiere, um sie zu rauben, zu missbrauchen und dann zu verstümmeln mit einer Grausamkeit, die nicht mal Teufel kennen. Dabei sind diese Unmenschen schrecklich feige. Auf einem Bahnhof warfen zwei als Nonnen getarnte Bettelweiber ein gieriges Auge auf Mitja und versuchten, ihn von mir wegzuzerren.
    »Wir werden deine Blindenführer sein, dir zu essen geben, dich umsorgen, einen feinen Herrn aus dir machen, dir das Leben erleichtern. Und du Hänfling verschwinde, misch dich nicht ein, sonst machen wir dich alle.« Und sie drohten mir mit dem Messer.
    Ich wurde wütend.
    »Rührt ihn nicht an, ihr Hündinnen«, schrie ich, »sonst spreng ich euch in die Luft mit der Handgranate, die reißt euch in Stücke!«
    Ich holte die dunkelbraune Wasserflasche aus dem

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