Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
der dritten Station hinter Woshega, wenn im Waggon Ruhe eingekehrt wäre, sollte ich durch die von ihnen geöffnete Tür in den Nachbarwaggon gehen und dort in der Nähe des Schaffnerkabuffs, näher zum Klo, Posten beziehen. Wenn ich im Kabuff verdächtige Geräusche hörte oder die Tür geöffnet würde, sollte ich laut husten und zurück in meinen Waggon flitzen. Und wenn mich doch der Schaffner zu fassen kriegte, sollte ich sagen, ich käme aus dem Nachbarwaggon, dort sei das Klo besetzt, und ich müsste dringend …
Der Waggon, für den ich die Platzkarte hatte, war mit Matrosen vollgestopft. Ich setzte mich auf meinen Platz im Gang und hatte so ein Gefühl im Bauch, dass die sache schiefgehen würde. Offenbar war der ganze Zug voller angetrunkener Kraftkerle, und wenn die mitkriegten, dass ihnen Gauner an die Sachen wollten, würden sie rasend werden.
Mein Vorgefühl hat mich leider nicht getäuscht. Der Nachbarwaggon war auch voller »Seewölfe«, die in Urlaub fuhren. Als ich hinter Woshega dort reinging, schnarchte der Waggon in allen Tonarten eines nächtlichen Orchesters. Alles schien normal zu verlaufen. Im Dunkeln spürte ich, dass der ältere Ganove im Waggon war, dann sah ich ihn auch. Er stand in der Mitte und machte mir ein Zeichen, beim Kabuff des SchaffnersSchmiere zu stehen. Der zweite Dieb hielt sich offenbar bereit, durchzulaufen und die bereitgestellten »Kartons« mitzunehmen. Ich stand an die Wand gedrückt und ließ kein Auge und kein Ohr von der Höhle des Schaffners. Von drinnen kam Schniefen und leichtes Schnarchen. Da plötzlich dröhnte in der Tiefe des Waggons ein tiefer Bass.
»Stopp, Halunke, hab ich dich!«, brüllte jemand.
Durch die Tür des Schaffners drangen Geräusche. Ich hustete. Die Tür wurde aufgerissen, der Schaffner sprang heraus, stieß mich gegen die Klotür und stürmte in den Waggon.
»Alarm!«, dröhnte der Bass. »Er hat mit dem Messer zugestochen!«
Von allen Pritschen polterte das Matrosenvolk herunter. Ich stürzte, die Kupplung überspringend, zurück in meinen Waggon. Gottlob hatten die Diebe die Türen aufgeschlossen. In meinem Waggon schlief alles.
»Njuschka, Njuschka, wo bist du?«, rief einer im Schlaf. Ich verkroch mich auf meinen Platz. Nach einiger Zeit rannte jemand trampelnd über das Waggondach zum Zugende. Ihm hinterher knallten ein paar Schüsse, die alle Schläfer weckten. Ja, meine älteren Komplizen hatten verdammtes Pech gehabt – sie waren an die Blaujacken geraten.
Ich musste auf einer der nächsten Stationen aussteigen. Der ganze Zug war in heller Aufregung. Es ging das Gerücht, einer der Diebe sei gefasst worden und der andere über die Waggondächer gelaufen und runtergesprungen. Der Schaffner vom Nachbarwaggon, der mich gegen die Klotür gestoßen hatte, würde sich womöglichan mich erinnern und auf die Idee kommen, dass ich Schmiere gestanden hatte – diese Schaffner waren schlau und gewitzt. Auf der Station Punduga verließ ich den unseligen Zug, indem ich einem alten Mütterchen mit ihren Bündeln hinaushalf.
Das Kinderheim des Chorgesangs
Einen Tag später, nicht mehr weit von Wologda, in Olarjowo, geriet ich in eine Razzia und wurde wieder Staatseigentum, das heißt, Zögling des Wologdaer Waisenhauses, in dem ich bis zum nächsten Frühjahr herumhing.
Das Wologdaer staatliche Haus unterschied sich von meinen bisherigen Heimen durch eine überraschende Besonderheit. Sein Natschalnik, der im Krieg eine Kontusion erlitten hatte, war ein Liebhaber der Musik, und er mochte besonders den Chorgesang. Die Heimkinder und auch Erwachsene nannten ihn den »singenden Zwerg«, weil er sehr klein war und weil er ewig Revolutions- und Parteilieder blökte. In seinem runden Gesichtchen prangte ein Stalinschnauzer, der überhaupt nicht zu ihm passte und wie angeklebt aussah. Hinzu kam seine Tabakspfeife, mit der er auch dirigierte, und schon war klar, wen der Zwerg nachäffte. Bekleidet war der kleine Chef mit Militärjacke und Reithose nebst Stiefelchen, was damals bei leitenden Funktionären in Mode war. Seinen Schädel krönte eine riesige Offiziersmütze mit einem roten Stern auf dem hellblauen Mützenband. Unter der Mütze hervor guckten uns die bösen Äuglein eines gefährlichen Köters an. Seine Kriegsbeschädigungzeigte sich darin, dass er sich regelmäßig den rechten Unterarm mit der linken Hand kratzte. Ungeachtet dessen liebte er das Dirigieren über alles.
Doch seine organisatorischen und pädagogischen talente
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