Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
hinuntergeflößt bis zur Waga und von dort die Waga hinunter zur Eisenbahn. Das haben nur ganz bestimmte Familien gemacht, die Meister im Flößen waren. So was wie heute – ›schmeiß alles rein in den Fluss, schwimmt von selbst‹ –, so was Liederliches gab’s nicht. Mit dem Holz wurde sorgsam umgegangen, es hat uns ja ernährt.
Außerdem haben wir Rüben gesät. Rüben ließen sich gut verkaufen. Ausgesät wurden sie in den Wäldern; erst wurde ein Stück gerodet, das Unterholz abgebrannt, und dann wurden die Rüben gesät. Sie waren saftig und fest, brachten guten Ertrag. Man hat sogar den menschlichen Organismus damit verglichen: ›Der ist kräftig wie eine Rübe‹, oder: ›Sieh mal, was für ein schönes Mädchen, knackig wie eine Rübe.‹ Zu unserm Dorf gehörten noch vier kleine Weiler. Darum hatten wir zwei Kirchen: eine große, zweigeschossig, und noch eine kleine, beide prächtig. Die erste, größere, haben sie schon in den zwanziger Jahren abgerissen, und in der kleinen, warmen, Unsere Liebe Frau von Kasan, soll’s noch lange heimlich Gottesdienste gegeben haben, bis die Natschalniks des Landes befahlen, sie zu schließen und den Glauben allmählich auszurotten.
Zu meiner Zeit wurden die Glocken runtergeholt und weggebracht. Ich hab’s zwar nicht selbst gesehen, aber Aljoschka Uschakow sagt, letztes Jahr wär ein Mann gekommen und hätt den kristallenen Kirchenkronleuchter kaputtgeschlagen mit einem Knüppel, und dafür wird er auch noch gelobt.
Im siebenunddreißiger Jahr haben sie unsern Priester abgeholt, der war der Ärmste von allen, ein Pope aus dem einfachen Volk, ganz ungebildet – in solch eine kleine Kirchgemeinde wird ja kein Studierter geschickt. Wie sie ihn mit einem Wagen von der OGPU * wegbrachten, da haben alle Mitleid gehabt, weil es ja wegen nichts und wieder nichts war. Keiner hat das verstanden.
Seit sie unser Dorf enthauptet und uns jede geistliche Beschäftigung genommen haben, ist alles den Bach runtergegangen. Wir sind zur finsteren Vergangenheit zurückgekehrt. Die Leute hatten bloß noch ein Vergnügen – saufen. Die ersten Siedler in den Wäldern sind Flüchtlinge aus den Moskauer Landen gewesen, viele von ihnen haben vom Räubern gelebt …«
Der Alte klagte bis tief in die Nacht über die »Liederlichkeiten« in Bestoshewo. Am dritten Tag holte uns der Fahrer Michailowitsch mit seinem Studebaker ab. Am Dorfausgang hielten drei Holzfäller den Wagen an und verlangten vom Chauffeur Wegezoll für einen Ausnüchterungsschluck. Zum Abschied sangen sie uns ein Scherzliedchen:
Denn sie wollten uns verprügeln
droben auf dem hohen Berg,
doch da sollten sie sich zügeln,
wir gehen mit der Axt zu Werk.
Jewdokia von Schangaly
Nach der Ankunft in Schangaly nahm uns Michailowitsch mit in sein Häuschen, das nicht weit von der Bahnstation entfernt stand, und brachte uns in einem Dachstübchen unter. Seine Frau, die stupsnasige Tante Jewdokia, war herzensgut und hatte geschickte Hände. Sie war Schneiderin in der einzigen Schneiderstube des Städtchens. Da Michailowitsch eine Kriegsverletzung hatte, klappte es bei ihnen nicht mit dem Kinderkriegen, so lebten sie zu zweit und gingen freundlich miteinander um. In dem Städtchen sahen Brubbel und ich selbst für die damalige Zeit richtig zerlumpt aus. Meine Jacke, aus der ich längst herausgewachsen war, löste sich schon auf. Die Nachbarn fragten den Kraftfahrer neugierig, wo er die abgerissenen Bengels aufgelesen habe und was er mit ihnen anfangen wolle. Darum beschlossen Tante Jewdokia und Michailowitsch erst mal, uns irgendwie einzukleiden. Er stiftete seinen Soldatenmantel, Andenken an den deutschen Krieg, und übergab ihn seiner stupsnasigen Frau, und die schnitt und nähte daraus zwei Jacken für uns, die fütterte sie, damit sie mehr wärmten, mit hausgewebtem Wollstoff, den Nachbarn für uns gespendet hatten. Die Jacken gerieten ihr so prächtig, dass Brubbel und ich nicht glauben konnten, sie seien für uns, und uns in der ersten Zeit kaum trauten, sie anzuziehen. An so gute Sachen waren wir einfach nicht gewöhnt.
Die örtliche Modepuppe, die Chefin vom Kreisparteikomitee mit dem runden Stalin-Abzeichen an der Brust, die bei Tante Jewdokia nähen ließ, sah unsere Jackenin der Stube hängen und bemerkte mit neidischem Unterton, das elternlose Lumpenpack sei so was Gutes gar nicht wert. Die Frau stammte aus dem Süden und war hergeschickt worden, um hier den Natschalnik zu machen. Für die barmherzigen
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