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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Menschen des Nordens hatte sie kein Verständnis.
    Und noch eine Kleinigkeit hat sich mir eingeprägt: Die metallenen Mantelknöpfe mit dem Stern darauf reichten nicht für beide Jacken, und Brubbel flehte Tante Jewdokia an, sie bei ihm anzunähen zum Gedenken an seinen gefallenen Vater. Ich widersprach nicht, denn von meinem Vater wusste ich ja nur, dass Uniformierte ihn schon vor meiner Geburt weggebracht hatten. Überhaupt war ich zu dieser Zeit nicht sehr sicher, irgendwen von meinen Verwandten in Piter wiederzufinden. Die Schneiderin von Schangaly nähte unsere alten Knöpfe an meine Jacke. Das war sogar besser, weil weniger auffällig. Ich würde mich ja noch eine Weile in Freiheit und in Unfreiheit herumtreiben müssen, bis meine Flucht zu Ende wäre.
    Nach ein paar Tagen machte die gute Tante Jewdokia mir den Vorschlag, als Briefsortierer im Post- und Gepäckwaggon anzuheuern und bis zum Knotenpunkt Konoscha mitzufahren, von wo viele Züge nach Süden und Südwesten abgingen. Ich sollte für eine Bekannte von ihr einspringen, eine Postlerin, die sich in Archangelsk um ihre grade erst operierte Mutter kümmern musste. Außenstehende durften sich eigentlich nicht im Postwaggon aufhalten. Aber der Chef willigte ein, mich ausnahmsweise mitfahren zu lassen, unter der Bedingung, dass ich unsichtbar blieb, mich bei keinem Halt des Zugsdraußen blicken ließ. Nun, das Unsichtbarmachen hatte mir, dem Schatten, Gott selbst in die Wiege gelegt.
    Mein Freund Brubbel musste in Schangaly bleiben, bis seine Mutter das Reisegeld schickte, doch ich durfte die Gelegenheit, Piter noch ein bisschen näher zu kommen, nicht versäumen.
    Brubbel schrieb mir beim Abschied die Adresse seiner Oma auf, die im Kreis Nikolsk, im Wologdaschen, wohnte. Leider haben mir die Bullen, die mich im Wologdaer Bahnhofsrevier filzten, den Zettel weggenommen. Auf meine Bitte, mir die Adresse meines Kumpels wiederzugeben, schnauzten sie mich an – verboten! Was heißt verboten? Wer hat sich so was ausgedacht? Warum quälen sie Menschen, indem sie ihnen in dieser kalten Welt die Freundschaft rauben? Wird ihnen davon wärmer oder was? Von diesem Tag an begann ich, über all das nachzudenken.
    Ich nahm Abschied von Brubbel, von Michailowitsch und Tante Jewdokia, die uns ihre Güte geschenkt hatten, als wären wir liebe Verwandte. Am Ende musste ich sogar ein bisschen weinen.
»Steh still, Lokomotive, hört auf zu rattern, Räder …« *
    Auf dem Bahnknotenpunkt Konoscha bedankte ich mich bei meinen fahrenden Gastgebern für die Hilfe und verließ den Archangelsker Zug; ich hatte ein wenig Geld in der Tasche meiner neuen Jacke und im Rucksack für drei Tage Proviant, den die mitleidigen Postfrauen für mich zusammengetragen hatten. Ich ging indie Nässe eines Dauerregens, aus allen Ritzen der überdachten Bahnhofsgebäude guckten Menschen. In den überfüllten Wartesaal hineinzukommen war selbst bei meinen Fähigkeiten unmöglich, und so suchte ich vor dem Regen Schutz unter einem vollbeladenen Leiterwagen.
    Durch Konoscha fuhren zahlreiche Fernzüge – nach Moskau, Leningrad, Wologda, nach Süden, Osten, Westen. Der billigste von ihnen war der Postzug Archangelsk – Wologda. Es wäre schön, mit ihm ins Wologdaer Gebiet zu gelangen, dann hätte ich schon viel gewonnen und würde schlimmstenfalls in ein dortiges Kinderheim kommen. Das Wichtigste war jetzt, die Station Jerzewo zu passieren. Dort, so wurde erzählt, war die Kontrolle besonders streng, und jeder musste seine Papiere vorzeigen. In der Nähe von Jerzewo verlief eine Schmalspurbahn, die in das Gebiet der NKWD-Straflager fuhr, und in Jerzewo befand sich die Verwaltung dieser riesigen Lager, die im Westen bis an den Woshe-See reichten. Von dort flohen immer wieder Häftlinge, darum wurde so streng kontrolliert. Ich aber war ein Niemand, ich hatte keine Papiere, mich konnten sie ohne weiteres hoppnehmen, verdreschen und – Gott behüte – zurück nach Archangelsk schicken. Dann wären alle meine Bemühungen vergebens gewesen. Ich musste mich verkriechen, einen Waggon mit einem Hundekasten finden, in den passte ich noch hinein. Trotzdem brauchte ich eine Fahrkarte, wenigstens für die ersten zwei, drei Stationen. Allerdings konnten sie mich trotz Fahrkarte in Jerzewo schnappen, da ich keine Flebben hatte. Aber wo sollte ich die herkriegen?
    Mit solchen Überlegungen wartete ich unter dem Fuhrwerk den Regen ab. Als er nachließ und die Menge sich etwas zerstreut hatte, überredete ich eine

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