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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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beschränkten sich auf den Chorgesang. Unsere Abteilungen wurden nach Stimmen zusammengesetzt. Jede Abteilung hatte ihren eigenen Klang, und vor den roten Feiertagen und einem Kontrollbesuch hochgestellter Personen wurden wir beizeiten zu einem vereinigten Chor zusammengetrieben und zwei oder drei Wochen jeden Tag im Singen gedrillt. Die Vorführungen dirigierte der Zwerg höchstselbst. Seine Beinchen standen auf einer Kiste, damit er zu sehen war.
    Die hochgestellten Personen verließen uns mit zufriedener Miene. Der Zwerg erhielt amtliche Lobesurkunden, die er sorgsam in seinem Arbeitszimmer unter dem Bildnis des geliebten Landesvaters aufhängte.
    Unser Repertoire bestand im Wesentlichen aus Liedern über den großen Führer, den Genossen Stalin, und seine Mitkämpfer, aber auch aus revolutionärem und patriotischem Liedgut. Morgens nach dem Wecken und dem Bettenbau gingen die Chorproben los. Statt Gymnastik zu machen, standen wir fünfzehn bis zwanzig Minuten im Schlafsaal und sangen die letzten, die neuesten Führerhymnen wie:

    Stalin und Mao hören uns.
    Moskau – Peking, Moskau – Peking.
    Die Völker gehen, gehen, gehen
    den lichten Weg, den Weg zum Frieden.
    Oder:

    Gewärmt von Stalins heller Sonne,
    schreiten wir Kinder stolz
    und kühn und frohen Herzens in die Zukunft.
    Unser Sowjetland soll blühn …
    Tagsüber büffelten wir revolutionäre Lieder und übten mit zugereisten Chorleitern. Vor dem Abendessen sangen wir, während der Zwerg mit der Stalinpfeife fuchtelte, drei Lieder: eines über den Führer, ein revolutionäres und ein militärisch-patriotisches. Zum Lernen blieb keine Zeit.
    Ich erinnere mich an ein Ereignis, dessen Held ich wurde. Kurz vor dem Tag des Sieges, dem 8. Mai, probte unser Chor um zehn Uhr vormittags im großen Saal mehrere Lieder über den Führer. Eingedenk des Jahres 1945 bog ich während des Singens aus Kupferdraht das Profil des Generalissimus, das anschließend von Hand zu Hand ging. Der Zwerg bemerkte von seiner Kiste aus eine Unruhe in den Reihen des Chors. Als das Lied zu Ende war, sprang er von seinem Piedestal und riss einem der Jungen den Führer in Draht aus der Hand.
    »Wo hast du das her, du Halunke?«, kreischte er. »Wer hat das gemacht? Red!«
    Der Junge schwieg verstört.
    »Na, wird’s bald, du Strolch? Ihr werdet mir hier singen bis in die Nacht! Mittag und Abendbrot fällt aus, wenn ihr mir nicht sagt, wer den Führer aus Draht gebogen hat!«
    Ich musste mich melden. Dass ich etwas Ungesetzlichesgetan hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. 1945 hatten sich alle gefreut, wie ähnlich mir die Führer in Draht gelangen, und hatten mir zu essen gegeben.
    »Du kleiner Verbrecher, ich verbiete dir, den Führer abzubilden! Was bist du denn? Ein Abtrünniger, Sohn eines Abtrünnigen! Wie kannst du es wagen, den Führer in Draht zu biegen? Ein Abbild des großen Stalin dürfen nur verdiente Genossen Künstler schaffen!«
    »Ich dachte, zu Ehren des Sieges …«
    »Maul halten! Was hab ich dir gesagt – untersteh dich!«
    »Aber wir singen doch vom Führer …«
    »Keine Widerrede, du Drecksbengel! In den Karzer mit ihm, in den Karzer, sofort, für zehn Tage!«, kreischte der Zwerg. Ein hünenhafter Kerl von der Wachtruppe zog mich am Schlafittchen aus meiner Reihe und schleppte mich in den Keller. Darum musste der festliche Chor zum fünften Jahrestag des Sieges ohne mich auskommen.
    Im Karzer überlegte ich: Warum durfte ich früher den Führer abbilden, und jetzt ist es verboten? Was war geschehen, was hatte sich geändert? Oder dachte nur der Zwerg so, und andere Natschalniks erlaubten es? Oder lag womöglich was ganz Neues in der Luft?
    Vom Wologdaer Kinderheim ist mir noch etwas in Erinnerung geblieben – das Makarenko * -Kabinett, in dem die Erzieher straffällige Zöglinge bearbeiteten. Gegenüber dem Tisch hing an der Wand ein holzgerahmtes Bild des großen revolutionären Pädophilen, der verdächtig zärtlich auf seine Schutzbefohlenen herabschaute. Dort im Heim hörte ich von den Älteren, dass Makarenko nicht nur ein großer Erzieher von obdachlosen Kindern war, sondern auch ein großer Kinderschänder.
    Es war das Jahr 1950. Wenn es nur bald warm wurde, ich hatte es satt, weiterhin den Chorknaben zu spielen, und konnte den zappelnden Zwerg nicht mehr sehen. Schon seit dem Winter bereitete ich mich darauf vor, das Gebiet Wologda zu verlassen; so hatte ich mehrere Kartenspiele gemalt. Für zwei davon gab mir ein Heimhandwerker einen

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