Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Strandbar unter und diskutierten auf Türkisch, wahrscheinlich darüber, was sie bestellen sollten. Ein dicklicher Mittzwanziger sagte schließlich: » Six Pastrami Sandwiches and six beer .«
»Auch Richler-Fans«, kommentierte Jan.
Das Trikot der Türken hatte exakt das gleiche Design und die gleichen Farben wie das österreichische. Schon vorher war mir aufgefallen, dass auch die Tschechen von ihrem Puma-Ausrüster das Österreich- beziehungsweise Türkeitrikot bekommen hatten. Vielleicht würden sie ja alle zusammen gegen Deutschland antreten, in ein und demselben Trikot.
Den Türken schmeckte das würzige, fetttriefende Pastrami-Sandwich, und ich musste an meinen ersten Besuch bei Sophies Eltern denken.
»Ich sag ja nichts. Aber ein Türk? Hat’s
denn wirklich a Türk sein müssen?«, fragte Sophies 84-jährige Großtante, als ich vorgestellt wurde.
»Nicht Türk. Dirk. Er heißt Dirk. Er kommt aus Deutschland«, sagte Sophie sehr laut und wendete sich dann an mich. »Sie hört nicht gut. Sie stand beim Einsturz der Reichsbrücke direkt am Ufer, das muss unglaublich laut gewesen sein. Seitdem hört sie schlecht«, erklärte sie. »Die Brücke ist um kurz vor fünf in der Früh eingestürzt, und um fünf hat sie schon dem ORF ein Radiointerview gegeben.«
Sophies Vater ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete ihn. Ein Tonbandgerät stand darin. Umständlich legte er ein Band ein. Währenddessen fragte Sophies Mutter mich, was ich trinken wolle.
Ich hatte noch Restalkohol vom Vortag im Körper und wollte einen besonnenen ersten Eindruck machen. »Ein Mineralwasser, bitte«, sagte ich darum.
»Bitte was?« Sophies Vater drehte sich zornig um. »Hier bei uns trinkt man kein Mineralwasser, junger Mann. Wir haben in Wien ausgezeichnetes Wasser. Hochquellwasser. Bei Ihnen im Ruhrgebiet müssen die armen Leute vielleicht Mineralwasser trinken, weil nur eine stinkende Industriebrühe aus dem Wasserhahn kommt. Bei uns nicht! Vom Schneeberg kommt unser Wasser, das ist das klarste und reinste Wasser, die ganze Welt beneidet uns darum. Da braucht’s kein Mineral!«, schimpfte er und widmete sich wieder der komplizierten Technik.
Sophie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Mir gegenüber saß ihr jüngerer Bruder, beide Arme und die Hüfte eingegipst. Er war am Karlsplatz in den Spalt zwischen Rolltreppe und Aufzug gefallen und sechs Meter tief gestürzt. Sophies Mutter, eine elegante Frau, lächelte und schenkte mir Orangensaft ein.
»Sind Sie das auf dem Foto?«, fragte ich. »Was ist das für eine Tracht?«
»Eine Gailtaler Tracht. Meine Familie kommt aus dem Gailtal«, sagte sie. »Aus Kärnten, dem Grenzland zu Slowenien.«
»Windische«, warf ihr Vater ein. »Slowenen. Ihre Mutter sprach kein Wort Deutsch.« Mir war nicht klar, ob das vorwurfsvoll gemeint oder eine neutrale Information war.
Plötzlich hörten wir ein Rauschen vom Tonband. Sophies Vater bedeutete uns, ruhig zu sein, da setzte auch schon eine blecherne Stimme ein.
»Wir befinden uns heute, am 1. August 1976, um fünf Uhr früh an der Reichsbrücke. Ein Wahrzeichen Wiens, wie das Riesenrad oder der Stephansdom, fast eineinhalb Kilometer lang, die drittgrößte Kettenbrücke Europas. Mizzi Svozil ist auf dem Weg ins Spital, zu ihrer Arbeit.«
Sophies Vater drehte lauter, und wir lauschten Mizzis Stimme, wie sie 1976 von einem ORF-Mikrophon aufgenommen und live ins ganze Land gesendet worden war.
»Die ganze Brücke hat sich plötzlich einen halben Meter gehoben und ist dann laut krachend auf der Gesamtlänge abgesackt.«
Hier endete die Aufnahme. Sophies Vater spulte das Tonband wieder zurück und nahm es vom Gerät. Großtante Mizzi hatte die Augen geschlossen und schien sich zu konzentrieren. In ihrer knöchrigen Hand zerdrückte sie ein Papiertaschentuch, ein weiteres hatte sie unter den Ärmel ihrer Bluse geschoben. Ich schloss daraus, dass sie verkühlt war.
»Zum Zeitpunkt des Einsturzes«, sagte sie, und ihre dritten Zähnen schepperten dabei leicht, weil sie nicht ganz fest saßen, »befanden sich fünf Personen in vier Fahrzeugen auf der Brücke.«
Sie schien das Erlebte noch einmal zu sehen. Vielleicht spulte sie aber nur etwas ab, das sie seit 1976 schon Hunderte Male erzählen hatte müssen.
»Ein Bus-Chauffeur in einem städtischen Gelenkbus, zwei Mitarbeiter des ÖAMTC in einem Pannenhilfe-Fahrzeug sowie der Lenker eines VW Käfers, der die Pannenhilfe wegen eines defekten Reifens angefordert hatte.«
Sie machte
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