Sechs Richtige (German Edition)
ist die eine Sache, ein guter Charakter die andere. Genau darum geht es – um das Gesamtpaket.» Sie las hektisch weiter. «Hilfe, Hilfe! Weil die Sendung von Psychologen betreut wird, ist diesmal die Teilnahme ab 14 gestattet», ging es weiter. «Selbst die Schulen befürworten diese Show. Hammer!»
«Natürlich ist letztendlich ein Modelvertrag der große Abschluss, aber die Mädchen sollen auch lernen, kameradschaftlich miteinander umzugehen und gute Verliererinnen zu sein. Dies alles soll in den zwei Wochen, in denen die erste Staffel aufgezeichnet wird, unter Beweis gestellt werden. Es wird nicht darum gehen, möglichst lange bei minus zehn Grad in einem Badeanzug im Freien zu stehen und so zu lächeln, als würde einem das alles nicht ausmachen», erzählte Vanessa hektisch. «Man muss sich auch nicht irgendwo abseilen oder irgendwo reinspringen. Es wird auf innere Werte – natürlich auch auf äußere – Wert gelegt. Das Casting findet schon bald statt, und zwar …» Vanessa las nun leise und konzentriert weiter und drehte sich zu Antonia um. «Mann! Schon bald! In vier Tagen in Hamburg, da müssen wir hin!»
«Logo!», schrie Antonia schrill. «Was ziehen wir nur an, o Mann, wir müssen unbedingt Frauke und Lena und die anderen fragen, ob die auch mitmachen wollen …» Sie zerrte ihre Schwester vom Schreibtischstuhl hoch. «Los, komm, wir müssen es Mama und Papa sagen!»
Sie rasten die Treppe runter. Aber dann stoppte Vanessa plötzlich ab. «Scheiße.»
«Was ist?», fragte Antonia atemlos.
«Wir dürfen doch nicht aufs Festland. Der Gewinn!»
Vanessa wurde blass. «Dann fahren wir heimlich mit der Fähre und sagen Mama und Papa, wir schlafen bei … bei Frauke und … bei … bei …»
«Vergiss es. Das kriegt hier doch jeder mit. Wie wollen wir denn heimlich auf die Fähre? In einem Karton?»
«Das ist mir egal», sagte Vanessa böse. «Zur Not schwimme ich nach Hamburg. Fiffi Sterzel und Jérôme Langhammer! Ich sterbe, wenn ich das Casting verpasse!»
Bei Fiffi Sterzel handelte es sich um das momentan angesagteste Model Deutschlands. Sie galt als heißeste Kandidatin, noch erfolgreicher als Heidi Klum zu werden. Fiffi, die eigentlich Iphigenie hieß, hatte nach dem «Vom Tellerwäscher zum Millionär»-Prinzip Karriere gemacht. Sie war in einem 300 -Einwohner-Kaff aufgewachsen, dessen Namen kein Mensch korrekt aussprechen konnte, hatte eine Ausbildung zur Tierpflegerin in einer kleinen Praxis in der Nähe von Alsfeld gemacht, und dort hatten immer schon die Leute zu ihr gesagt, dass sie total schöne blonde Haare hätte und eigentlich Model werden müsste. Der Inhaber einer Modelagentur hatte sie schließlich entdeckt. Das Sympathische an Fiffi war, dass sie einfach glaubwürdig und sehr bodenständig wirkte. Sie sagte auch in Interviews, dass sie froh sei, eine abgeschlossene Berufsausbildung zu haben, denn man wisse ja nie, was noch komme.
Und jetzt hatte man Fiffi dieses neue Format angeboten! Es war unfassbar. Mit Jérôme in der Jury! Jérôme war ein schwuler Designer, so wie fast alle Designer, und er entwarf Phantasiegewänder, die alle, wirklich alle Frauen haben wollten, weil sie darin aussahen wie überirdisch schöne Feen, die gerade einem Märchen entsprungen waren. Jérôme arbeitete mit fließenden Stoffen, Pastellfarben, Gold und Pailletten. Große Schauspielerinnen sagen, Jérôme Langhammer würde sie zu Göttinnen machen. Jérôme wusste genau, was er konnte, und benahm sich leider wie eine kleine Diva, was aber seiner Beliebtheit keinen Abbruch tat. Er besaß einen blinden Berner Sennenhund, der früher in den Alpen heiße Trinkschokolade zu halb erfrorenen Bergsteigern gebracht hatte und nun bei Jérôme sein Gnadenbrot erhielt. Gustav kam überallhin mit und wurde von allen heiß geliebt.
Und nun also das: Eine neue Castingshow, ein neues Topmodel-Format, bei dem schon Jüngere mitmachen durften, das alles abgesegnet von Schulen und Psychologen, weil ein neuer Sinn dahintersteckte. Und sie hockten hier auf dieser Insel fest.
Vanessa hätte am liebsten geschrien.
«Wir müssen mit Mama reden. Jetzt», sagte sie und zerrte Antonia mit sich. «Wir müssen ihr das so erklären, dass es unglaublich wichtig ist für die … für … für alles, also für die Entwicklung und so, und dass alle das gut finden, die was zu sagen haben.»
Antonia nickte panisch. «Ja, es ist total wichtig für unsere … unsere Entwicklung. Wir werden gestört, wenn wir uns nicht bewerben
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