Sechs Richtige (German Edition)
dürfen und bekommen Lernprobleme.» Sie war knallrot. «Und mein Gott, es muss alles schnell gehen.»
Astrid Prönkel schloss kurz die Augen und drehte sich dann auf ihrem Stuhl zu den Töchtern, die hyperaktiv vor ihr standen.
«Nein», sagte sie und biss sich auf die Lippen. «Antonia, du hast es mir letztens versprochen!»
«Du wolltest alleine die Insel verlassen?», fragte Vanessa ihre Schwester.
«Nein, mit dir, ich hab Mama nur allein gefragt.»
«Mama!», schrien beide. «Diese Insel ist verflucht. Erst habt ihr uns hierhergeschleift, und wir haben alles mitgemacht, klaglos, und jetzt gibt es diese einmalige Chance, und wir dürfen sie nicht, wahrnehmen. Ihr zerstört unser Leben, und zwar komplett. Wenn wir dieses Casting nicht mitmachen dürfen, weiß ich nicht, was passiert.» Vanessa atmete heftig ein und aus und wirkte ein wenig so, als würde sie in den nächsten Sekunden kollabieren.
«Ich weiß auch nicht, was dann passiert, aber ich weiß, was passiert, wenn ihr Helgoland verlassen werdet. Und übrigens …»
«Ja, ja, ihr meint es ja nur gut, alles ist nur für uns, und später werden wir euch total dankbar sein», beendete Antonia den Satz. «Mama, du musst dir das alles mal im Internet anschauen. Es wird ausdrücklich empfohlen, die Kinder da mitmachen zu lassen. Das prägt fürs Leben. Positiv natürlich.»
«Ich glaube, dass ihr auch ohne diesen Wettbewerb halbwegs gute und vernünftige Menschen werdet.» Astrid beugte sich wieder über ihren Einkaufszettel. Die Audienz war beendet.
Antonia und Vanessa verließen das Arbeitszimmer und stapften wütend nach oben.
Astrid schaute aus dem Fenster. Wenn die wüssten …
«Morgen fangen die Herbstferien an, und diese Castings beginnen», sagte Antonia bitter. «Und hier wird es immer dunkler, bestimmt kommt bald der Winter. Und dann tritt das ein, vor dem uns alle gewarnt haben – Langeweile. Wahrscheinlich werde ich in dieser komischen Trachtentanzgruppe mitmachen und Deckchen besticken oder Xylophon spielen.»
Vanessa nickte. «Wir verdummen. Wir können uns der Uni zur Verfügung stellen: Wie ich es in einem Jahr schaffte, komplett zu verblöden. Na ja, wenigstens hat Frauke in Englisch eine Zwei geschrieben.»
«Du solltest Lehrerin werden», sagte Antonia. «Echt jetzt, wie du das in so kurzer Zeit geschafft hast. In Mathe ist sie auch besser geworden, oder?»
Vanessa nickte. «Das nützt mir aber auch nichts.»
Dafür waren Fraukes Eltern vor lauter Dankbarkeit fast durchgedreht, nachdem Frauke die erste gute Note mit nach Hause gebracht hatte. Sie behandelten Vanessa wie eine Hochbegabte, und wenn das so weiterging, würden sie ihr wahrscheinlich irgendwas vererben.
Die Nachricht des neuen Formats hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Auf Facebook explodierten die Einträge, und ein paar Freundinnen aus den alten Klassen meldeten sich bei Antonia und Vanessa und erzählten aufgeregt, dass sie natürlich an den Castings teilnehmen würden.
«Ich wäre auch so gern dabei», schrieb Vanessa ihrer ehemaligen Klassenkameradin Anne. «Ich bin todunglücklich hier, weil ich nichts machen kann.»
«Tja, Pech», war Annes Kommentar. «Also dann, cu!»
Später saßen sie mit ihren Freundinnen zusammen. «Weißt du, was ich glaube?», fragte Frauke, die alles von den angeblichen Freunden mitbekam.
«Hm?» Vanessa konnte nur an das Casting denken.
«Ich glaube, dass ihr da auf dem Festland alle verroht.»
«Wie meinst du das denn?»
«Ihr habt irgendwie nur unwichtige Sachen im Kopf. Halt, jetzt rastet nicht gleich aus, aber es ist doch wahr. Klar ist so ein Casting geil, aber niemand stirbt, wenn er nicht teilnehmen kann.»
«Du kannst da doch gar nicht mitreden», sagte Vanessa.
«Nee, kann ich auch nicht. Entschuldige bitte, dass ich lebe.»
«Seid ihr auf Helgoland jetzt alle besser als wir?», fragte Antonia, die schlechte Laune hatte. «Ist man automatisch der bessere Mensch, wenn man auf einer Insel wohnt?»
«Das meine ich doch gar nicht. Aber … wie soll ich denn das erklären?» Frauke überlegte. «Ich will echt nicht oberlehrerhaft rüberkommen. Logisch sind wir hier nicht besser. Hier sind manche Sachen nur einfach anders.»
«Kannst du mal ein Beispiel geben?»
«Hier muss man sich auch mal mit sich selbst beschäftigen oder wirklich helfen. Fridtjof zum Beispiel hat dem alten Sören einen ganzen Winter lang die Netze geflickt, weil Sörens Rheuma so schlimm geworden war, dass er sich kaum noch bewegen konnte.
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