Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition)
im Lotto gewonnen, nicht nur positive Resonanzen einbringen würde.
Ich erinnerte mich an meinen Schulkameraden Jan, über den in der Grundschule völlig zu Unrecht das Gerücht aufgekommen war, seine Eltern hätten ein Schwimmbad. Hinter seinem Rücken fielen Begriffe wie Snob und Muttersöhnchen. Nie war ganz klar, wie es dazu eigentlich gekommen war. Vermutlich hatten wir unsere Hobbys aufgezählt, und Jan war nichts Besseres als »schwimmen« eingefallen. Aus dem Schwimmen wurde ein Schwimmbad, so wie in den Fantasien der Kinder schnell aus einer Hütte ein Palast wurde.
Wochenlang triezten wir Jan, weil er uns nicht zu sich nach Hause und in sein Schwimmbad einladen wollte. Wir wechselten die Straßenseite, wenn er uns auf dem Schulweg begegnete, und ließen ihn nicht mehr abschreiben. Jemand, der Eltern hatte, die sich ein Schwimmbad leisten konnten, brauchte keine guten Zensuren, befanden wir. Er würde sowieso die Firma des Vaters übernehmen. Selbst unsere Eltern spielten mit.
Eine Mutter erklärte beim Abendbrot, dass ihr Jans Vater sowiesosuspekt sei, weil er auf einen Elternabend gekommen sei und sich für mehr Sportunterricht eingesetzt habe. Vielleicht war es auch um die Anzahl der Mathematikhefte oder den Kreidevorrat gegangen. Außerdem habe er, so hatte es die Mutter beobachtet, die Klassenlehrerin sehr offensiv angelächelt. Was davon nun stimmte, wusste im Nachhinein keiner mehr so genau. Der Tenor jedenfalls war, dass nur ein sehr reicher Vater, der ein Schwimmbad besaß, so früh die Arbeit verlassen und seine Angestellten schuften lassen konnte, um auf dem Elternabend seinen unnötigen Senf dazuzugeben, während die Mutter bei der Maniküre war.
Irgendwann einmal stellte uns Jans ältere Schwester Sabine auf dem Schulhof zur Rede. Sie wollte wissen, warum ihr Bruder sich jede Nacht in den Schlaf weinte. Sabine war wirklich sehr mutig. Kleinlaut murmelten wir etwas von einem Schwimmbad und sozialen Ungerechtigkeiten (auch wenn wir es so garantiert nicht ausgedrückt hatten). Sabine stemmte die Hände in die Hüften und zerrte uns zu sich nach Hause. Noch nie zuvor hatte ich jemanden so wütend gesehen. Wir wagten nicht aufzumucken, als sie uns imaginär, aber körperlich spürbar am Schlafittchen hinter sich herzog.
Nach vier Stationen mit der U-Bahn und einem fünfzehnminütigen Fußmarsch landeten wir in einer Hochhaussiedlung, in der ich noch nie zuvor gewesen war. Wir fuhren in einem alten Fahrstuhl, der mit Graffiti besprüht war, in den sechsten Stock. Sabine sagte auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort, von uns wagte niemand, auch nur einen Pieps von sich zu geben. Wir standen in einem Hausflur, in dem es nach angebrannten Zwiebeln roch. Jans große Schwester kramte aus ihrem Schulranzen ihren Schlüssel hervor, mit dem sie die Wohnungstür aufschloss. Sie schob uns unsanft in einen kleinen Flur, von dem drei winzige Zimmer und eine Küche abgingen.
»So, wartet mal«, sagte Sabine mit einem Ton, der vor Sarkasmusund Zorn nur so triefte. »Und hier geht’s dann wohl zum Schwimmbad.« Sie knallte die Tür zu einem Minibadezimmer auf. Wir glotzten alle schuldbewusst hinein. Es gab noch nicht mal eine Badewanne, lediglich eine Dusche.
Fünf Minuten später kam Jans und Sabines Mutter nach Hause. Sie begrüßte uns freundlich und fragte, ob wir Freunde von Jan seien. Mir wurde plötzlich speiübel.
»Jan fährt Zeitungen aus, aber er kommt bestimmt bald«, erklärte sie fröhlich. Auf ihren Fingernägeln war noch nicht einmal Nagellack.
Die Tränen stiegen mir in die Augen, als sie erklärte, sie würde die Eltern aus Jans Klasse noch gar nicht so gut kennen, weil sie neulich krank im Bett gelegen hatte und ihr Mann extra früher von der Arbeit gegangen war, um beim Elternabend dabei zu sein.
Wir schlichen mit gesenkten Köpfen nach Hause. Von meiner Mutter bekam ich Ärger, weil ich zu spät zum Mittagessen kam.
War dies nun die späte Rache für Jan? Sollte der Lottojackpot mein persönliches Schwimmbad werden? Dies war erst der Anfang, wurde mir klar, nachdem ich auf dem Weg nach oben Maria Resche die ›Mopo‹ aus dem Briefkasten mopste. Auf dem ersten Treppenabsatz flatterte mein Herz. Nicht etwa, weil es so anstrengend war, die Stufen zu bewältigen, sondern wegen der Schlagzeile im Hamburgteil. »Radioreporterin knackt Lottojackpot! – Ist sie die barmherzige Samariterin?«
»Sag mal, spinnt ihr?«, rief ich in den leeren Hausflur hinein. Als Antwort ertönte das
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