Sechseckwelt 01 - Die Sechseck-Welt
sie in Materie oder andere Energieformen und hält sie stabil. Das ist die Wirklichkeit – die stabilisierte, verwandelte Primärenergie. Aber die so stabilisierten mathematischen Konstruktionen befinden sich in ständiger Spannung, wie eine zusammengedrückte Feder. Die Energie würde, wenn sie nicht daran gehindert werden würde, in ihren Naturzustand zurückkehren. Diese Wesen – die Schwärme – haben eine gewisse Kontrolle über diesen Prozeß. Nicht genug, um große Veränderungen herbeizuführen, aber genug, um die Gleichung ein wenig abzuwandeln, die Wirklichkeit zu variieren. Das ist Zauberei.«
»Ich verstehe nicht alles, aber die Grundidee scheint mir klar zu sein«, meinte Wuju. »Die Markovier waren Götter, sagen Sie, und konnten tun oder haben, was sie wollten.«
»So ungefähr. Die Götter waren real, und sie haben alle von uns geschaffen – oder zumindest die Bedingungen, unter denen wir uns entwickeln konnten.«
»Aber das wäre das Höchste, was der Geist erreichen kann«, sagte Vardia. »Warum sind sie ausgestorben, wenn das wahr ist?«
Wuju warf einen wissenden Blick auf Nathan Brazil, einmal der einzige Mensch in der Gruppe, jetzt der einzige Nicht-Mensch.
»Ich habe jemanden sagen hören, warum sie gestorben sind«, erklärte sie. »Als sie das Äußerste erreichten, wurde es dumpf und langweilig für sie. Sie schufen neue Welten, hier und dort neue Lebensformen – und alle verwandelten sich in diese neuen Formen, um von vorn anzufangen.«
»Was für eine schreckliche Idee«, sagte Vardia angewidert. »Wenn das zuträfe, hieße das, daß sogar die Vollkommenheit unvollkommen ist, und wenn jemand diese Gottähnlichkeit erreichte, würde er es unzulänglich finden und durch Selbstmord sterben, vielleicht eine neue Garnitur Primitive hinterlassen, damit alles wieder neu beginnt. Das verkleinert alle Revolutionen und Mühen, all den Schmerz, die großen Träume – alles – zu Unsinn. Es heißt, daß das Leben sinnlos ist.«
»Nicht sinnlos«, sagte Brazil plötzlich. »Es heißt nur, daß große Pläne sinnlos sind. Es heißt, daß man sein eigenes Leben nicht sinnlos oder nutzlos macht – die meisten tun es. Es würde keinen Unterschied machen, wenn neunundneunzig Prozent der Menschheit – oder irgendeiner anderen Rasse – lebten oder nicht. Abgesehen von der großen Zahl ist ihr Leben dumpf, vegetativ und unproduktiv. Sie träumen nie, lesen nie oder befassen sich nie mit den Gedanken anderer, erfahren nie die erfüllende Gleichung der Liebe – die nicht allein darin besteht, andere zu lieben, sondern auch darin, geliebt zu werden. Das ist der eigentliche Sinn des Lebens, Vardia. Die Markovier haben ihn nie gefunden. Seht euch diese Welt, unsere eigenen Welten an – alle spiegeln die markovische Unwirklichkeit, die auf dem äußersten materialistischen Utopia beruhte. Sie waren wie der Mann von unfaßbarem Reichtum, vielleicht mit einem eigenen Planeten, nach seinem Geschmack gestaltet, der trotzdem eines Morgens tot gefunden wurde, weil er sich die Kehle durchgeschnitten hatte. Alle seine Träume sind erfüllt worden, aber dann stand er allein ganz oben. Und um dorthin zu gelangen, mußte er sich von allem befreien, was wirklich Wert besaß. Er tötete seine Menschlichkeit, seine Geistigkeit. Oh, er konnte lieben – und kaufen, was er liebte. Aber er konnte nicht die Liebe kaufen, die er ersehnte, nur Dienste. Wie die Markovier stellte er, als er dorthin gelangt war, wo er sein ganzes Leben sein wollte, fest, daß er in Wahrheit gar nichts besaß.«
»Das weise ich zurück«, sagte Vardia scharf. »Der reiche Mann würde Selbstmord begehen, wegen der Schuld, die er empfand, weil er alles hatte, während andere hungerten, nicht aus einer Sehnsucht nach Liebe heraus. Das Wort ist ohne Sinn.«
»Wenn die Liebe sinnlos oder abstrakt ist oder mißverstanden wird, dann ist auch diese Person oder Rasse sinnlos«, erwiderte Brazu. »Damals in der Zeit der alten Erde gab es in einer Gruppe einen Spruch: ›Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und litte doch Schaden an seiner Seele?‹ Auch damals hörte keiner zu. Seltsam, an diese Gruppe habe ich lange nicht gedacht. Sie sagte, Gott sei die Liebe, und glaubte an einen Himmel gemeinschaftlicher Liebe und eine Hölle für jene, die nicht lieben konnten. Später geriet das mit anderen Dingen durcheinander, bis die Ideen verschwanden und nur die Artefakte blieben. Wie die Markovier achteten sie mehr auf Dinge
Weitere Kostenlose Bücher