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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Anrufe, und Rosa entwickelte zunehmend ein Gefühl dafür, was sie aufschreiben sollte und was nicht.
    Zweimal hatte sie Elisabeth Kobler in der Leitung. Die Anrufe kamen über Jagmettis Durchwahl rein, doch Claudio telefonierte, und so landete Kobler bei Rosa. Gereizt erkundigte sichdie Chefin, ob die Anzeige schon etwas Brauchbares ergeben habe.
    Am Abend und am nächsten Morgen befragten Eschenbach und Claudio die Leute persönlich, deren Angaben sich vielversprechend angehört hatten. Genauer gesagt, Eschenbach führte die Gespräche, und Jagmetti protokollierte. Der Bündner nahm’s gelassen.
    Die meisten Zeugen kamen zu früh. Man hatte sie am Telefon gebeten, »pünktlich« zu erscheinen. Vermutlich war das ein Fehler gewesen, dachte der Kommissar.
    »Ich bin jetzt dreiundachtzig und hab in meinem ganzen Leben noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt.« Trotz frühlingshafter Temperaturen trug der Mann einen dunklen Flanellanzug und in seinem schütteren Haar pappte großzügig Brillantine.
    Es kamen Frauen mit Kindern: »Ich kann sie doch nicht allein zu Hause lassen, oder? An einem Samstagmorgen, wenn die gar nicht zur Schule müssen.« Und ein Typ Anfang zwanzig streckte Eschenbach einen Strafzettel entgegen: »Wenn ich schon eine Aussage mache, dann nehmen Sie den doch bestimmt zurück.«
    Obwohl das Wochenende begonnen hatte, ging es zu wie auf der Entbindungsstation. Und weil es im obersten Stock des Präsidiums keinen Warteraum gab, standen alle um Rosas Schreibtisch herum und erzählten ihre Geschichten.
    »Das meiste hab ich schon gehört«, sagte Rosa am Nachmittag, als sie zu dritt über die Zeugenbefragungen berieten. Sie saßen am Besprechungstisch in Eschenbachs Büro. Es roch nach Farbe und frisch verklebtem Teppich.
    »Rund die Hälfte können wir vergessen«, sagte Jagmetti. »Zwei haben den Jungen vermutlich zusammen mit dir gesehen.« Claudio sah zu Eschenbach. Und mit einem Blick zurück zu Rosa meinte er: »Ihnen überlasse ich die Protokolle, wenn’s recht ist.«
    Rosa lächelte tapfer.
    »Und natürlich gehe ich davon aus, dass Sie den Unfug herausstreichen.« Jagmetti suchte einen Passus in den Notizen: »Es war einer dieser Schlägertypen … groß, mit dunklen Haaren. Der ist mit dem Kleinen am Feuer gesessen, beim Sechseläuten. Ich hab gleich gesehen, dass es so ein Pädophiler ist …«
    »Die Leute schauen zu viel Krimis«, sagte Rosa und glättete mit den Händen ihren Rock.
    »Ich muss«, sagte Jagmetti und sah auf die Uhr. »Heute Abend bin ich in Chur bei Freunden, und morgen früh haben wir einen Workshop – an einem Sonntag! Ich weiß nicht, wie es nun weitergehen soll. Gestern hat mir Kobler überraschend die Einsatzleitung von Eureka übertragen. Hans Würmelinger hatte einen Nervenzusammenbruch … Vermutlich werde ich zu nichts anderem mehr kommen die nächsten Wochen.«
    »Ach so«, murmelte Eschenbach. Wie ein Bär hockten ihm die Schmerzen im Nacken. Eureka hieß der Einsatzplan zur Gesamtüberwachung Großraum Zürich während der EURO 08 . »Es wird schon«, sagte er.
    »Es ist wie beim Fußball«, meinte Rosa. »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
    Nachdem Jagmetti und Rosa gegangen waren, verfiel Eschenbach ins Grübeln. Erst sein Spitalaufenthalt, dann der verhängnisvolle Mittwochabend, an dem der Junge verschwunden war, und der Donnerstag bei Kobler. Nun war Samstag und vom Kleinen noch immer keine Spur. Es würde Tage dauern, bis man die Hinweise ausgewertet hatte. Vorausgesetzt natürlich, man hatte das Personal dazu. Aber ohne Leute? Wenn sich Jagmetti nicht mehr darum kümmern konnte, wer dann? Er selbst war schließlich suspendiert. Und Kobler hatte bestimmt schon bemerkt, dass er sich noch nicht aus der Sache herausgehalten hatte.
    Der Kommissar streckte die Beine. Er fühlte sich erschöpft undauf eine ihm unbekannte Art machtlos. Was konnte er anderes tun als warten? Er beschloss, nach Hause zu gehen.
    Auf dem Heimweg kaufte er bei Sprüngli am Paradeplatz einen Becher mit Birchermüsli, nahm ihn mit in seine Wohnung und schmierte in der Küche noch zwei Honigbrote.
    Nachdem er gegessen hatte, widerstand Eschenbach der Versuchung, sich hinzulegen. Er trat auf die kleine Dachterrasse, um frische Luft zu atmen.
    Irgendetwas lief verkehrt. Und ihm waren die Hände gebunden.
    Der Kommissar wurde das Gefühl nicht los, dass es Koblers Strategie war, die Sache einzuschläfern, die Akte zu schließen, wie es Jagmetti formuliert hatte. Indem sie Claudio

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