Sechselauten
Mercedes S 500 .
Eschenbach rieb sich den Nacken. Plötzlich war ihm klar, wie knapp alles gewesen war. Fast Glück. Er hätte sich über den Erfolg ausgiebig freuen müssen. Jedenfalls länger, als er es tat. Denn sein Frohsein der ersten Stunde hielt nicht an. Zu viele Fragen drängten sich auf. Wer waren diese Leute? Weshalb flüchteten sie – und was hatten sie mit dem Kleinen vor? Eine Frage stellte sich vor die andere, laut und unbeantwortet.
Bevor sie losgefahren waren, hatte Gaffuri ihn gefragt, ob er für die Überführung nach Zürich Polizeischutz brauchte. Aber Eschenbach hatte dankend abgelehnt. Es waren alte Leute, die ihm beinahe ehrfürchtig Respekt zollten und mit denen er sich auf der Fahrt möglichst ungezwungen unterhalten wollte.
Sie hatten sich als Meret und Josef Kolegger vorgestellt. Ein Ehepaar in den späten Sechzigern; rüstig und misstrauisch. Der Kommissar hatte den Eindruck, diese Alten kämpften gegen das Leben, statt es zu genießen. Nur der neue Wagen passte nicht zu ihnen. Es war der falsche Rahmen zum Bild.
»Wie heißt der Junge denn?«, begann der Kommissar nach einer Weile.
»Latscho Bischoff heißt er«, sagte Josef Kolegger zögernd. »Er ist bei uns, seit er geboren wurde. Wir sind seine Pflegeeltern sozusagen. Seine Mutter ist … Nun, sie war eine Freundin.«
»Gute Freundin«, ergänzte seine Frau. »Wie eine eigene Tochter.«
»Charlotte?«
»Sie wissen?« Frau Kolegger drehte sich um. Ihr dunkles Gesicht wurde von einem Nest aus wilden, grauen Haaren umrahmt und hatte tiefe Furchen. »Sie ist tot jetzt.« Ihr Blick flackerte kurz. Sie hatte dieselben indigoblauen Augen wie der Junge.
»Ja, ich weiß«, sagte Eschenbach. Er versuchte dem durchdringenden Blick standzuhalten, scheiterte aber.
Frau Kolegger drehte sich wieder nach vorne. »Mulo …«, murmelte sie. »Der Mulo. Het gmuult und muuli gmalocht!«
Es klang wie ein Schwur.
»Tot«, sagte ihr Mann.
»Totgemacht«, sagte sie. »Charlotte war eine von uns.« Meret holte tief Luft, und der Alte fiel ihr ins Wort, in einer Sprache, die Eschenbach nicht verstand.
»Eine von uns?«, wiederholte der Kommissar.
»Ist es in Ordnung, wenn wir noch tanken?«, fragte der alteMann höflich. Als Eschenbach den Kopf schüttelte und nichts dagegen einwendete, bog er bei der nächsten Gelegenheit von der Straße ab und fuhr zu einer Tankstelle. Vor einer Zapfsäule stieg er aus.
Rosa, die ihnen gefolgt war, tat dasselbe.
»Weshalb totgemacht?«, fragte der Kommissar die Frau, die mit ihm im Wagen geblieben war.
Frau Kolegger sah eine Weile schweigend zu, wie ihr Mann den Zapfhahn bediente, und als Eschenbach seine Frage wiederholte, meinte sie brüsk: »Man stirbt nicht so jung.«
Ihr Mann ging zum Tankstellenshop und stellte sich dort in die Warteschlange. Eschenbach behielt ihn im Auge. Er sah nun auch, wie Rosa, die ebenfalls getankt hatte, zur Kasse ging. Sie hielt den Jungen fest bei der Hand. Einen Moment lang hatte der Kommissar ein ungutes Gefühl. Er dachte an das Angebot von Gaffuri.
Der Benzingeruch schlug dem Kommissar auf den Magen.
Aber alles ging gut. Mit einer Zeitung unter dem Arm und einer Flasche Mineralwasser kam der Alte zurück und stieg ein.
Bis zum Südportal des Gotthardtunnels kam kein anständiges Gespräch mehr in Gang. Es war wie beim Tennis, wenn das Gegenüber den Ball nicht ordentlich zurückspielte. Eschenbach gab auf und sah zum Fenster hinaus in die Wälder der Leventina.
»Wir fahren nicht durch den Tunnel«, verkündete Kolegger kurz vor der Ausfahrt Airolo. Er setzte den Blinker und zirkelte den Wagen von der Autobahn hinunter auf die Gotthardstrasse.
»Mein Mann hat Angst im langen Dunkel … Claustrophobia sagt man, glaube ich.«
Eschenbach schnaufte. Seit der Tankstelle war Rosa vor ihnen gefahren. Nun hatte er seinen alten Volvo aus den Augen verloren. Er rief seine Sekretärin auf dem Handy an und erklärte ihr die Umstände. »Über den Pass, das dauert länger.«
Sie vereinbarten als Treffpunkt die Raststätte, auf der sie schon auf dem Hinweg angehalten und die Plätze getauscht hatten. »Ja,Erstfeld«, sagte der Kommissar, und weil bei Rosa plötzlich die Sirene losging, schrie er es nochmals ins Telefon.
Das Adrenalin eines Morgens voller Aufregung machte einer flauen Müdigkeit Platz. Auf Eschenbachs Fragen hatten die alten Leute mit »später« geantwortet. Oder Herr Kolegger war ihm ausgewichen und hatte ihn vertröstet: »Wenn’s wieder geradeaus
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