Sechselauten
Juventute mit den Kindern des fahrenden Volkes?« sehr prägnant:
»Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreißen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn es nicht gelingt, die einzelnen Glieder auf sich selbst zu stellen, so werden sie über kurz oder lang wiederum von ihrer Sippe eingefangen; alles, was man für sie getan hat, ist verloren.«
Das Hilfswerk verteilte deshalb die weggenommenen Kinder so dezentral wie möglich. Kinder, die im Tessin ihren Familien weggenommen wurden, kamen in Aargauer Anstalten, Bündner Kinder als Verdingkinder zu Schaffhauser oder Solothurner Bauern. Das Hilfswerk bediente sich dabei sowohl des Verdingkinderwesens und der staatlichen Anstalten verschiedener Kantone als auch der Anstalten des katholischen Sozialwesens, beispielsweise der Waisenhäuser der Menzinger und Ingenbohler Schwestern, der Heime und Pflegeplatznetze der Seraphischen Liebeswerke Luzern und Solothurn sowie der klosterähnlichen Mädchenheime der Kongregation Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten. Sogar im Mädchenheim des Guten Hirten Straßburg, also im Ausland, versteckte Siegfried eine größere Anzahl von jenischen Mädchen aus der Schweiz.
Am liebsten platzierte Siegfried die weggenommenen jenischen Kinder bei Pflegeeltern, die an einer Adoption interessiert waren. Sie haben auch ein solches Kind adoptiert, haben Sie mir erzählt.
[Laras Vater]: Ja. Fahren Sie fort.
[Der Fremde]: Bei diesen Adoptionen muss genau abge-
klärt werden, ob sie gemäß den gesetzlichen Vorschriften
vor sich gingen … Ich meine natürlich jetzt nicht Ihren Fall, Herr Bischoff … das ist ganz allgemein, im Sinne meines Berichts …
[Laras Vater]: Sie müssen sich überhaupt nicht rechtfertigen. Es ist so, wie ich gesagt habe, Klarheit und schonungslose Aufdeckung der Fakten.
[Der Fremde]: Richtig. [Rascheln] Also … Wo war ich stehengeblieben?
[Laras Vater]: Adoption.
[Der Fremde]: Richtig. [Räuspern und Rascheln] Also bei dieser Versorgungsart, für die hauptsächlich sehr kleine und hübsche Kinder, vorzugsweise Mädchen, in Frage kamen, konnte in den glücklicheren Fällen das Kindswohl – in einem problematischen, rein individualistischen Sinn verstanden – mit dem übergeordneten Ziel der Entfremdung von der jenischen Kultur und Identität kombiniert werden. Denn sobald die Kinder adoptiert worden waren und ihren ursprünglichen Familiennamen nicht mehr trugen, waren sie für ihre Eltern praktisch unauffindbar. Es sind mir auch einige Fälle bekannt, wo die Pflegeeltern wider Erwarten plötzlich eigene Kinder bekamen und dann aus Gründen des Erbrechts auf eine Adoption des jenischen Pfleglings verzichteten – diese Kinder wurden wie überschüssige Ware ans Hilfswerk retourniert, weitergegeben und gehandelt und fanden selten mehr ein gutes Ende.
Jede Faser in Laras Körper war angespannt. Sie hatte in den kurzen Pausen, die der Fremde machte, immer wieder eingreifen wollen. Etwas sagen, einfach irgendetwas sagen wollen, das dieser unheilvollen Geschichte etwas Menschliches verleihen würde. So wie sie als Kind, wenn sie nachts durch den Wald gegangen war, laut gesungen hatte.
Aber für diese Dunkelheit gab es nichts. Kein Lied. Kein einziges Wort dagegen.
[Der Fremde]: Am ehesten konnten die fahrenden Eltern ihre weggenommenen Kinder in Waisenhäusern und Erziehungsanstalten wiederfinden. Drohende Kontakte der Eltern zu ihren Kindern unterband aber Siegfried, wenn möglich, durch sofortige Umplatzierung. Die Entfremdung von den Eltern und Verwandten, von der jenischen Kultur und Lebensweise war das Erziehungsziel, das vor allem anderen, auch noch vor dem Wohl des Kindes, höchste Priorität hatte. Dass die Kinder bei den Wegnahmen traumatisiert wurden, dass ihr Trennungstrauma durch die häufigen Heim- und Pflegeplatzwechsel stets neu vertieft wurde, all das wurde der »Bekämpfung der Vagantität«, der radikalen Zerstörung der kulturellen Identität der weggenommenen jenischen Kinder, untergeordnet. So wechselten einzelne Mündel Siegfrieds ihren Pflegeplatz Dutzende von Male, eines durchlief insgesamt neunundvierzig Versorgungsplätze.
Die Folgen der Traumatisierung der weggenommenen jenischen Kinder waren entweder Abstumpfung oder Auflehnung. Beides erklärte die Ideologie des Hilfswerks mit der erblichen Belastung seiner Zöglinge und bestrafte sie
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