Sechselauten
Und als Eschenbach nach einer Weile noch immer nichts sagte, griff der junge Bündner zur Tasse auf dem Couchtisch und trank den kalten Espresso in einem Schluck.
»Und das willst du wirklich tun?«, fragte der Kommissar. Er richtete sich langsam auf, suchte eine Position, in der er bequem sitzen konnte. »Wir können das Ganze doch nicht ad acta legen, bevor wir diesen Jungen gefunden haben. Also ich meine natürlich du, Claudio. Du musst das tun. Denn ich bin ja jetzt weg vom Fenster … das hat man mir überdeutlich klargemacht.«
»Ja, der Junge«, sagte Claudio finster.
»Das ist ein Zeuge, Herrgott noch mal.«
Claudio zuckte die Schultern. »Ich bin der Sache nachgegangen. Dieser Anwalt, Kronenberger, bis Ende letzten Jahres war der Partner bei einer Zürcher Anwaltskanzlei. Dann hat er diesen Posten bei der FIFA angenommen.«
» FIFA «, grummelte der Kommissar. »Das höre ich jetzt schon zum x-ten Mal. Was macht dieser Kronenberger dort eigentlich ganz genau?«
»Er ist Rechtskonsulent«, sagte Jagmetti. »So heißt das, glaube ich. Ich weiß allerdings auch nicht exakt, was so einer tut. Aber auf dem Organigramm der FIFA , da habe ich gesehen, dass er direkt dem Präsidenten unterstellt ist.«
»Dann ist er der Chefjurist dort«, warf Eschenbach ein.
»Eben. Das hat man mir auch gesagt«, meinte Jagmetti. »Und ich habe mich dann die ganze Zeit gefragt, warum kümmert sich der oberste Jurist einer Weltorganisation um diese Sache … macht uns solche Probleme. Das ist doch irgendwie seltsam, finde ich.«
»Probleme, allerdings.« Eschenbach blickte nachdenklich zum Fenster hinaus auf die Straße. Er versuchte sich vergeblich an die Nacht in Wädenswil zu erinnern, an die Frau und daran, wie sie ausgesehen hatte. Eine Investmentbankerin? Aber er erinnerte sich an gar nichts.
Den Berichten nach mussten dieselben Beamten angerückt sein, die ein paar Stunden zuvor Rosa und den Jungen nach Hause gefahren hatten. Deshalb hatten sie ihn erkannt, als sie ihn blutüberströmt auf dem Boden gefunden hatten. Er, der verletzte Kripochef – was gab es da noch zu interpretieren. Täter oder Opfer? – eine Entscheidung, die bei Außeneinsätzen oft innert Bruchteilen von Sekunden gefällt wurde. Und nachträglich stellte sich manchmal heraus, dass man für die Beurteilung der Lage mehr Zeit gebraucht hätte. Wie viele Kriege waren aufgrund eines solchen Malheurs schon begonnen worden?
»Was denkst du?«, fragte Jagmetti.
»Dass wir uns warm anziehen sollten«, sagte Eschenbach in bedächtigem Ton. »Und dass wir diesen Jungen suchen müssen. Wenn wir ihn finden, und Glück haben, dann hilft uns der ein Stück weiter. Klein beigeben ist die letzte Karte, die wir spielen.«
»Ich mach das schon«, sagte Jagmetti.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Eschenbach und stand auf. »Jetzt holen wir uns etwas zu essen und überlegen uns, wie wir das am besten anstellen.«
»Wenn du dich da nicht raushältst …« Claudio stand nun ebenfalls auf. »Also das gibt Probleme, das sag ich dir.«
»Na und? Ein bisschen Gegenwind macht einen aufrechten Gang.«
Im Polizeigebäude an der Kasernenstrasse läutete pausenlos das Telefon.
Wer hat diesen Jungen gesehen? Die Frage stand im Tagesanzeiger , Inlandteil, rechts unten. Dazu gab es ein Foto vom Kleinen (samt ausführlicher Beschreibung) und eine Telefonnummer, unter der man sich kostenlos melden konnte.
»Ich hab so einen gesehen im Migros.« Der erste Anruf kam morgens um halb acht. Und der zweite Anrufer meinte: »In der Spielgruppe von unserem Jonas ist er. Das ist doch ein Ausländer, oder?«
»Er spielt Fußball beim FC Witikon«, lautete der nächste Hinweis.
»Macht endlich etwas gegen diese pädophilen Schweine!«
»Ich hab ihn im Fernsehen gesehen! Da bin ich mir ganz sicher.«
»Da sieht man, was man hat, wenn die Eltern arbeiten.«
»Wie hoch ist eigentlich der Finderlohn?«
Es hörte nicht auf.
Nach drei Stunden hatte Rosa rote Ohren. Zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen des kantonalen Polizeidienstes nahm sie die Anrufe auf der Hotline entgegen. Kurz vor zwölf quoll ihr Notizblock über, vor lauter Schwachsinn, wie Rosa fand.
»Einfach weitermachen«, sagte Eschenbach.
In der Mittagspause holten sich Eschenbach und Rosa im Globus am Löwenplatz einen Salat: Tomaten mit Mozzarella, abgepackt in durchsichtigem Plastik. Außerdem gönnten sie sich eine Flasche Evian und zwei Erdbeertörtchen.
Der Freitagnachmittag verlief besser. Es kamen weniger
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