Sechselauten
mit Arbeit zudeckte und ihn, Eschenbach, suspendierte. Er wusste nicht recht, wie er sich das Verhalten seiner Chefin erklären sollte. Elisabeth Kobler war grundsätzlich kein hinterlistiger Mensch. Dafür kannte er sie lange genug. Sie war ängstlich, auf ihre eigene Karriere bedacht. Aber noch nie hatte sie ihn auf eine solche Weise fallenlassen, nur weil jemand von außen etwas Druck gemacht hatte.
Er musste mehr über diese Bischoff herausfinden, nahm sich Eschenbach vor. Mit ihr reden, vielleicht.
Düstere Wolken hingen wie Baldachine über den Häusern. Womöglich war es doch so, wie man sagt: Ein später Tod des Böög bringt einen schlechten Sommer. Wenigstens musste er die Pflanzen nicht gießen, es würde wieder Regen geben, dachte der Kommissar. Die Glyzinie räkelte sich kraftvoll die Hauswand hoch, und das Basilikum strotzte in sattem Grün.
Eschenbach kam Rosa in den Sinn, wie rührend sie sich um den Jungen gekümmert hatte. Es war nicht zum Aushalten, sie mussten ihn einfach finden.
11
A ls Eschenbach am nächsten Morgen aus einem tiefen Schlaf erwachte, wusste er zuerst nicht, welcher Tag es war. Er stand auf, ging in die Küche und machte Kaffee. Sein Blick schweifte zum Fenster hinaus. Es nieselte. Der Regen ließ die braunroten Ziegeldächer glänzen. »Kein schöner Lenz«, murmelte der Kommissar. Aber er fühlte sich etwas besser.
Unter der Dusche hörte er das Telefon klingeln und dann Rosas Stimme auf dem Anrufbeantworter, sie klang aufgeregt und verärgert: »Um Gottes willen, Chef, warum erreiche ich Sie nie? Es ist Sonntagmorgen … Schalten Sie doch wenigstens Ihr Handy ein.« Was Rosa sagte, schlug sich über drei Oktaven. »Stellen Sie sich vor, wir haben den Jungen gefunden … in Chiasso, bei Leuten, die sagen, sie seien seine Pflegeeltern. Die Polizei … in einem Mercedes, bevor sie nach Italien … Sind Sie nicht da, Kommissario?«
»Die Tessiner Polizei hält ihn hoffentlich fest«, keuchte Eschenbach. Hellwach und mit dem Plastiksack, den er sich zum Duschen um seinen Gipsfuß gebunden hatte, war er zum Telefon gehumpelt.
»Ma certo«, sagte Rosa. »Und die Leute mit dem Auto auch … Und sie wollen wissen, was sie tun sollen, die Polizei. Sie haben nur die Hotline. Aus der Zeitung, mit dem Bild. Vorhin haben sie mich angerufen, zum Glück war ich im Büro, der blöde Bericht, ach, bin ich froh!«
»Ich fahre gleich los.«
»Ich komme mit«, rief Rosa. »Und ich sag den Tessinern Bescheid, dass wir kommen, weil die sprechen nur Italienisch.«
»Also gut. In zwanzig Minuten im Büro.«
»Mamma mia, il bambino!«, fing Rosa von neuem an.
Der Kommissar legte auf.
Eine Stunde später saßen sie in Eschenbachs Volvo. Rosa erzählte alles noch einmal von vorne: diesmal in normaler Stimmlage und in klaren vollständigen Sätzen, aber immer noch in hohem Tempo. Der Kommissar konzentrierte sich aufs Fahren.
Auf dem Rastplatz bei Erstfeld wechselten sie die Plätze, Rosa setzte sich ans Steuer.
Eschenbach, der sich nun entspannen konnte, streckte die Beine. »Reden die Leute eigentlich?«, fragte er.
»Die Tessiner Kollegen haben gesagt …«
»Ich meine nicht die«, fuhr Eschenbach dazwischen. »Sondern die in Zürich, im Büro.«
»Wie meinen Sie das, Kommissario?«
»Über die Sache mit mir … was beim Sechseläuten passiert ist. Über diese Sachen halt.«
»Sie meinen, ob getratscht wird?«
»Ganz genau, Frau Mazzoleni. Gerüchte … Vermutungen, irgendwelche Theorien und Spekulationen. Na, Sie wissen schon.«
»Man wundert sich halt«, meinte Rosa, nachdem sie den Blinker gesetzt und die Spur gewechselt hatte.
»Wer wundert sich, und über was genau?«, wollte Eschenbach wissen.
»Aber Kommissario …« Rosa wechselte wieder die Spur. »Wenn man alles genau weiß, dann sind es doch keine Gerüchte mehr.«
»Ach hören Sie auf, Frau Mazzoleni. Erzählen Sie!«
»Also die Eva Kollreuter hat gesagt, dass es die Kobler ziemlich getroffen hat.«
»Getroffen?« Eschenbach schnaufte. Eva Kollreuter warKoblers Sekretärin, eine zackige, kleine Vorarlbergerin, Anfang vierzig, die ihr Herz auf der Zunge trug und bekannt dafür war, dass sie Tacheles reden konnte. »Getroffen hat es mich. Sagen Sie mir jetzt, was die Kollreuter wirklich gesagt hat.«
»Dass sie kündigen werde, wenn es so weitergeht …« Und wie jedes Mal, wenn Eschenbach etwas gefragt hatte, wandte sich Rosa ihm zu.
»Schauen Sie um Himmels willen geradeaus«, rief Eschenbach, als er
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