Sechselauten
nicht mehr rauchte. »Sie haben das alles geplant … ich meine, die Ausrede mit dem Tunnel und die Fahrt auf den Berg, bis es mir schlecht wurde?«
»Wir sind schon hundertmal durch den Gotthard«, sagte der Alte. »Wir sind Fahrende.«
Zum ersten Mal entdeckte der Kommissar ein Lächeln auf den Gesichtern der Koleggers.
Eschenbach erblickte Rosa schon von weitem. Auf dem Spielplatz der Raststätte saß sie mit Latscho auf einer wippenden Holzente und winkte. Um sie herum tobte gut ein Dutzend Kinder. Die Jungen jagten einem Ball hinterher. Andere warfen mit Steinen oder gingen mit Stecken aufeinander los, während die Mädchen mit Puppen, Puppenwagen oder einer Kombination aus beidem spielten.
»Hat er denn schon etwas gesagt?«, wollte Eschenbach wissen.
Rosa schüttelte den Kopf, strich dem Kleinen mit der Hand über sein gelocktes Haar und meinte: »Aber das wird schon noch, gell? Wir sitzen jetzt seit einer Stunde hier und schauen uns das an: Die Jungen verdreschen sich; die Mädchen trösten und heilen die Wunden.«
Latscho nickte.
»Ja, ja – die Bösen und die Guten«, sagte der Kommissar. Er kannte die Kriminalstatistik, auf die sich Rosa berief: fünfundachtzig Prozent der Gewaltverbrechen wurden von Männern begangen. Und was für den Kanton Zürich galt, war für den Rest der Welt nicht anders. »Aber der Gründer vom Roten Kreuz, Henri Dunant – das war ein Mann.«
Nachdem sich Eschenbach in der Raststätte ein Sandwich geholt hatte, gingen sie zurück zu den Autos.
Das Ehepaar saß auf einer Bank in der Nähe ihres Wagens und wartete. Der Kommissar gab Josef Kolegger die Autoschlüssel zurück. Er hatte sie dem alten Mann abverlangt, nachdem sie den Wagen geparkt hatten. Zweimal ließ er sich nicht austricksen.
»Wir belegen die Fahrzeuge wie vorher«, sagte der Kommissar.
Rosa nickte. Sie hatte Mühe, Latscho zu halten. Der Kleine wollte Meret folgen, die mit ihrem Mann langsam in Richtung des silbergrauen Mercedes weitergegangen war.
»Es kann losgehen.« Eschenbach saß bei den Koleggers auf dem Rücksitz und hatte sich versichert, dass Rosa und der Kleine ihnen im zweiten Wagen folgen konnten.
Hartnäckig versuchte der Kommissar, das Gespräch mit den alten Leuten wieder in Gang zu bringen.
»Charlotte war für uns wie eine Tochter«, begann Meret schließlich. »Wir haben keine Kinder, wissen Sie. Josef kann nicht … es ist nicht seine Schuld.« Frau Kolegger sah ihren Mann von der Seite an: »Ich darf das doch erzählen, Josef?«
Es folgten ein paar Sätze, die Eschenbach nicht verstand. Er fragte sich, in welcher Sprache sich die Koleggers unterhielten. Es klang irgendwie östlich. Waren sie keine Schweizer?
Nachdenklich blickte er aus dem Fenster. Sie befanden sich auf der Axenstrasse. Links von ihnen lag grauschwarz der Vierwaldstätter See. Der Kommissar suchte den Schillerstein, auf der anderen Seite des Ufers. Er konnte ihn nicht entdecken.
»Entschuldigen Sie.« Meret Kolegger. »Es ist privat. Mein Mann hat gemeint, es tut nichts zur Sache.«
»Und welche Sprache sprechen Sie, wenn’s privat ist?«
»Wir sind Fahrende«, sagte Kolegger. »Haben wir Ihnen das nicht gesagt?«
Der Kommissar erinnerte sich. »Doch, natürlich. Roma also.«
»Nein, Jenische«, bemerkte Kolegger etwas empört. »Das ist
ein großer Unterschied. So wie FC Zürich und Grasshopper Club.«
»Und Schweizer sind wir auch«, bemerkte Meret. »Wir verlassen unsere Standplätze ordentlich, nicht so wie diese Maanischen.«
Eschenbach grinste etwas verwirrt. »Dann sprechen Sie also Jenisch.«
»Richtig.«
»Und der Kleine, der spricht das auch?«, wollte er wissen.
Meret schüttelte den Kopf. »Ein paar Brocken … nicht wirklich. Kinder schnappen es auf und bringen’s dann wieder, so wie’s gerade passt.«
Aber es passte nicht. Irritiert schob der Kommissar seinen Unterkiefer vor und rekapitulierte. »Sie sind Jenische. Fahrende. Schweizer. Das habe ich jetzt begriffen. Aber was Charlotte angeht … da weiß ich, dass sie bei der FIFA gearbeitet hat und aus einer Familie kommt … nun, ja, ich würde sagen: britische Hochfinanz. Und das alles geht irgendwie ganz schlecht zusammen, finde ich.«
»Finden Sie?«, fragte Meret. »Aber ich kann Ihnen das alles erklären.«
»Bitte.«
»Also: Sandro hat Charlotte damals zu uns gebracht. Vor zehn Jahren ungefähr. Es war Frühling, wie jetzt … Ich kann mich gut erinnern. Wissen Sie, wir fahren dann weg. Nur den Winter, den
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