Sechselauten
Wohnwagen machten Anstalten, ihn mitzunehmen. Mit dem Daumen im Wind ging er bergwärts. Er musste Rosa Bescheid geben. Wenn es nicht anders ging, würde er zu Fuß zurück zur Passhöhe gehen, bis ins Hospiz, dort gab es Telefone. Einen besseren Plan hatte er nicht.
Er sah den Wagen erst, als er neben ihm hielt.
»Steigen Sie ein!« Es war Frau Kolegger. Sie hatte das Fenster heruntergelassen. »Na los, machen Sie schon.« Eschenbach sah, dass sie geweint hatte.
Im Wagen war es angenehm warm. Jackett und Handy fanden sich, wo er sie hingelegt hatte. Mit klammen Fingern tippte er eine SMS an Rosa: Es wird später, bitte warten.
Beim nächsten Kehrplatz wendete Kolegger den Wagen; nun ging es wieder talwärts Richtung Hospental. Eschenbach bekamlangsam wieder Gefühl in seinen Fingern. Schweigend rieb er sich die roten Knöchel.
»Mein Mann hat gedacht, Sie haben Charlotte umgebracht.« Der Satz kam aus dem Nichts. »Er hat es in der Zeitung gelesen. Hier. Sehen Sie selbst.«
Frau Kolegger gab ihm die Zeitung. »Mein Mann hat Sie auf dem Bild erkannt. Als wir anhielten, an der Tankstelle. Das sind doch Sie, nicht wahr?«
Eschenbach stockte. Ein Großformat auf der Titelseite: angeschlagen, wie er war, mit Nasenschiene und finsterem Blick. Wer hatte ihn so abgelichtet? Darunter stand in blutigen Lettern: Zürcher Polizist schuld am Tod des Opfers?
»Unsinn«, sagte Eschenbach.
Frau Kolegger drehte sich nach hinten. Und wieder krallte sich ihr wässriger Blick an Eschenbach fest. »Wir haben gestritten, Josef und ich. Er wollte nicht, dass wir umkehren. Aber ich will wissen, was Sie getan haben … wie das alles passiert ist.« Sie deutete auf die Zeitung. Eschenbach wusste nicht, was er sagen sollte. »Ja, das bin ich. Aber ich bin Polizist, verstehen Sie?«
»Das hat nichts zu sagen«, kam es von hinter dem Steuer.
»Gar nichts, allerdings«, wiederholte sie.
Eschenbach schüttelte den Kopf. Lag es an der Berichterstattung der Medien, oder hatten die Koleggers schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht? In was für einer Welt lebten diese Leute? Der Kommissar überflog den Bericht. »Das ist doch Bullshit«, murmelte er und entschloss sich, den Koleggers die ganze Geschichte zu erzählen. Von Anfang an, so wie er sie erlebt hatte. Seine Version. Er machte keinen Hehl daraus, dass er einen Moment lang selbst befürchtet hatte, für den Tod von Charlotte verantwortlich zu sein. »Ich war da und musste helfen. Verstehen Sie? Ich konnte nicht danebenstehen und nichts tun.«
»Sie haben jemand behindert – einen Spezialisten. Steht in der Zeitung.«
»Ich habe niemanden behindert. Weshalb auch?« Eschenbachsah Frau Kolegger an. »Ich wäre für jede Hilfe dankbar gewesen. Alles hätte ich getan, um das Leben dieser Frau zu retten.« Ratlos schweifte Eschenbachs Blick zum Fenster hinaus.
Am Straßenrand lag haufenweise schmutziger Schnee.
»Wenn Sie Charlotte nicht getötet haben, wer dann?«, fragte Kolegger.
Der Kommissar seufzte. »Den Berichten zufolge müssen wir von einem Unfall ausgehen.«
»Müssen. Warum müssen?«, meinte Kolegger aufgebracht. »Es war kein Unfall.«
»Dann helfen Sie mir«, sagte Eschenbach, der nun ebenfalls lauter wurde. »Sagen Sie mir endlich, was Sie wissen. Ich bin mir ja auch nicht sicher, was dort beim Sechseläuten vorgefallen ist. Herrgott!« Eschenbach versuchte sich zu beruhigen. »Der Einzige, der möglicherweise gesehen hat, was wirklich passiert ist, ist der Kleine. Latscho. Fragen Sie ihn.«
»Er schweigt«, sagte Meret Kolegger. »Er ist ganz verwirrt … ein anderes Kind, seit das mit Charlotte passiert ist.«
»Das ist ja auch nicht verwunderlich«, meinte Eschenbach. Er war froh, dass sich die hitzige Diskussion etwas beruhigt hatte. »Wir müssen ihm Zeit geben, das alles zu verdauen.«
Beide nickten zustimmend.
»Wie haben Sie ihn denn gefunden?«, wollte der Kommissar wissen.
Meret und Josef Kolegger wechselten einen kurzen Blick. »Latscho hat uns gefunden.«
»Er wurde zu Ihnen gebracht, ist es das, was Sie mir andeuten wollen?«
Die alten Leute schwiegen. Der Kommissar spürte, dass er bei dieser Frage gegen eine Mauer rannte. Er würde es zu einem späteren Zeitpunkt nochmals probieren.
»Ist Ihnen noch kalt?«, fragte Frau Kolegger nach einer Weile. »Ich versichere Ihnen, Josef wird nun ordentlich fahren.«
Der Kommissar nickte. Ihm war noch gar nicht aufgefallen,wie routiniert und rücksichtsvoll Kolegger inzwischen fuhr und dass er
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